Schweizer Milchproduzenten steht das Wasser bis zum Hals
In Sardinien protestieren Schafhirten wegen des zu niedrigen Milchpreises. Ein Problem, das auch die Schweiz betrifft, wo viele Produzenten inzwischen am Ende sind.
«Es ist dramatisch, aber es überrascht mich nicht,» sagt Berthe Darras von UniterreExterner Link, einer bäuerlichen Gewerkschaft für nachhaltige und lokale Landwirtschaft, über die Nachrichten aus Sardinien, wo Schafhirten gegen den zu niedrigen Milchpreis protestieren.
In ganz Europa – und da ist auch die Schweiz keine Ausnahme – ist der Druck auf die Milchpreise so gross, dass die Branche einem Dampfkochtopf kurz vor der Explosion gleicht. Vor elf Jahren breitete sich der Milchstreik, eine Bewegung aus Frankreich, etwas auf dem Kontinent aus.
Seitdem hat sich wenig oder gar nichts getan: «Heute ist das Schlimmste, dass die Schweizer Produzenten so verzweifelt sind, dass sie nicht einmal mehr die Kraft haben zu kämpfen. Viele hören auf oder wechseln zur Rindfleisch-Produktion, andere machen weiter, verbrauchen aber ihr Kapital, und manche begehen schliesslich Suizid. Es ist katastrophal», sagt Darras.
«Heute ist das Schlimmste, dass die Schweizer Produzenten so verzweifelt sind, dass sie nicht einmal mehr die Kraft haben zu kämpfen.»
Preis deutlich unter Produktionskosten
Aktuell liegt der Milch-RichtpreisExterner Link in der Schweiz bei 68 Rappen pro Kilo. Allerdings gibt es grosse Unterschiede zwischen den Milchsorten. Für Milch, die für die Käseproduktion bestimmt ist, bekommen Bauern etwa 80 Rappen. Bei Milch für die Industrie (die etwa zwei Drittel der Gesamtmenge ausmacht) liegt der Preis etwa bei 55 Rappen.
Diese Preise decken in keiner Weise die Produktionskosten: Auf Flachlandbetrieben liegen diese bei etwa einem Franken pro Kilo, auf Bergbauernhöfen bei bis zu 1,60.
Um die Differenz auszugleichen, können sich Schweizer Bauern auf DirektzahlungenExterner Link des Bundes verlassen. Dieses Instrument, das auch in der Europäischen Union existiert, deckt gemeinschaftliche Leistungen der Landwirte, zum Beispiel zur Erhaltung der Landschaft oder der biologischen Vielfalt. Darüber hinaus profitiert der Milchmarkt von anderen Formen der Unterstützung, wie beispielsweise Exportsubventionen.
Die fortschreitende Liberalisierung und Marktöffnung haben diese Art von Subventionen jedoch stark reduziert. Von 2000 bis 2015 wurde die Summe fast durch drei geteilt: von über 700 Millionen Franken pro Jahr auf weniger als 300 Millionen pro Jahr.
Wendepunkt am Ende des Jahrtausends
Bis 1999 war der Schweizer Milchmarkt direkt vom Staat abhängig, der den Preis und die zu produzierende Menge festlegte und Verkäufe garantierte. Der Staat subventionierte zudem den Käse-Export mit Millionen. In den 1990er-Jahren gab er ca. eine Mrd. Fr. pro Jahr aus, um diese Exporte zu unterstützen.
«Das hat jedoch den Wert des Schweizer Käses ruiniert, erklärt Kohler. «Es wurde viel Käse exportiert, vor allem Emmentaler, und vor allem nach Italien.» Der Käse wurde praktisch unter den Herstellungskosten verkauft. Die Differenz wurde durch den Schweizer Staat gedeckt. «Die Konsumenten im Ausland haben sich dadurch daran gewöhnt, wenig für ein Produkt zu bezahlen, das in der Realität mehr kostete.»
Mit Inkrafttreten der Abkommen der Internationalen Handelsorganisation wurden diese Hilfen schrittweise abgeschafft und durch das System der nicht produktionsgebundenen Direktzahlungen ersetzt.
«Eine Hälfte vom Markt, die andere vom Staat»
Vor allem dank der Direktzahlungen können Bauern die Produktionskosten decken, meint Stefan Kohler von der Branchenorganisation MilchExterner Link, einer Plattform der schweizerischen Milchwirtschaft, die Milchproduzenten, Milchverarbeiter, Industrie und Detailhandel zusammenbringt.
«Für jedes Kilo Milch erhalten die Landwirte gemäss einem Bericht der Regierung von 2017Externer Link etwa 50 Rappen vom Staat. Mit anderen Worten kommt die Hälfte des Einkommens der Bauern vom Markt, die andere Hälfte vom Staat», erklärt Kohler.
Die Berechnungen von AgrideaExterner Link, einer landwirtschaftlichen Beratungszentrale, kommen zu einem etwas anderen Ergebnis: Demnach erhalten Flachlandbauern vom Staat 21 Rappen pro Kilo Milch und Bergbauern 56 Rappen. Die Produktionskosten übersteigen den erhaltenen Gesamtpreis um 12 bis 56 Rappen.
Sind die Grossverteiler schuld?
Aber wie kam es überhaupt zu so einem Preisdruck? In Sardinien zeigen Hirten mit dem Finger auf die Käseindustrie und die Überproduktion von Pecorino Romano. In der Schweiz sind es vor allem die grossen Detailhändler, denen vorgeworfen wird, den Preis gedrückt zu haben.
«Das Problem – das auch in anderen Ländern zu finden ist – besteht darin, dass die Milchproduzenten gegenüber der Industrie und vor allem gegenüber den grossen Detailhändlern sehr wenig Gewicht haben», sagt Darras. In der Schweiz gibt es ein Duopol (die Grossverteiler Coop und Migros), das die Regeln bestimmt und sehr hohe Gewinnmargen von rund 30% festlegt.
«Wettbewerbsfähig bleiben»
Laut Kohler ist es wichtig, den Milchpreis eher niedrig zu halten: «Wir müssen an die ganze Produktionskette denken und wollen nicht, dass der Preis im Vergleich zum Ausland zu hoch ist. Sonst haben wir keine Chance, mit importierten Produkten zu konkurrieren. Heute sind die Schweizer Konsumenten an bestimmte Preise gewöhnt.»
«Wir müssen an die ganze Produktionskette denken und wollen nicht, dass der Preis im Vergleich zum Ausland zu hoch ist.»
Darras von Uniterre relativiert dieses Risiko: «Für Produkte wie Konsummilch, Butter oder Rahm gibt es keine Marktöffnung [auf die Einfuhr dieser Produkte werden Zölle erhoben, A.d.R.]. Sie machen mehr als 50% der gesamten verarbeiteten Milch aus. Würde der Preis um 50 Rappen erhöht, so dass ein Liter Milch im Einzelhandel 1,90 bis 2 Franken kostet, würden Konsumenten 30 bis 35 Franken pro Jahr mehr zahlen. Das ist eine lächerliche Zahl!»
Auch laut Kohler muss die Entschädigung für Milchproduzenten erhöht werden, aber durch Direktzahlungen. «Andere landwirtschaftliche Produkte – wie zum Beispiel Fleisch – geniessen in der Schweiz einen höheren Schutz. Das ist ein ungerechtes System, denn wir haben die gleichen Kosten wie in der Fleischproduktion. Im Milchsektor gleichen sich die Preise jedoch am stärksten denen in Europa an. Deshalb fordern wir im Rahmen der Vernehmlassung zur Agrarpolitik ab 2022 (AP22+)Externer Link eine Erhöhung der Direktzahlungen für Milchproduzenten.»
Die Zukunft der Agrarpolitik
Im November 2018 hat die Schweizer Regierung eine Vernehmlassung zur Agrarpolitik ab 2022 (AP22+) eröffnet.
Die Hauptpunkte sind Folgende: mehr Unternehmertum, Vereinfachung der Verwaltungsabläufe, höhere Wertschöpfung, Verringerung des ökologischen Fussabdrucks.
Das System der Direktzahlungen wird nicht in Frage gestellt. Das Projekt sieht die Auszahlung von 13,915 Mrd. Fr. zwischen 2022 und 2025 vor, d.h. 3,478 Mrd. Fr. pro Jahr. Diese Summe ist nahezu identisch mit dem für 2018 geplanten Betrag.
Den höheren Preis den Konsumenten aufzubürden, kommt für Kohler nicht in Frage: «Das ist illusorisch. Mit einem Preis von einem Franken pro Kilo hätten wir auf den meisten Märkten keine Chance mehr.»
Markt, Produktivität und Innovation
Auf politischer Ebene ist die Forderung nach einer Intervention für höhere Preise praktisch chancenlos. Die Schweizer Agrarpolitik ist seit Jahren auf eine stärkere Liberalisierung ausgerichtet. Und das Ziel der AP22+ ist klar formuliert: «Stärkung der Marktorientierung, des unternehmerischen Potenzials, der Eigenverantwortung und des Innovationsgeistes der Landwirtschaft.»
«Man spricht nur von Produktivität und von einer Kostensenkung auf ein europäisches Niveau», bedauert Darras. «Man kann von einem Land mit so hohen Lebenshaltungskosten wie der Schweiz nicht verlangen, die gleichen Produktionskosten wie europäische Länder zu haben. Und in Europa passiert das Gleiche: Man sagt den Bauern, sie seien zu teuer im Vergleich zu den Brasilianern, Mexikanern und so weiter.»
Laut Kohler ist eine Umstrukturierung des Agrarsektors notwendig: «In der Schweiz haben die Betriebe durchschnittlich eine Fläche von 22 bis 23 Hektaren. Wir sind weit entfernt von den 1000 bis 2000-Hektaren einiger Betriebe in Ostdeutschland. Wir wollen zwar keine solchen Milchfabriken, wir wollen Familienstrukturen erhalten. Aber ein Durchschnitt von 30 Hektaren pro Betrieb täte der ganzen Branche gut.»
Sich neu erfinden
Milchproduzenten, die nicht aufgeben wollen, müssen sich neu erfinden. «Es gibt mehrere Projekte zur Verteilung fairer Milch. Es gibt einen Boom bei den kleinen Genossenschaften. Hinzu kommt der Direktvertrieb, der sehr gut funktioniert», erklärt Darras. «Aber zu welchem Preis? Sie müssen wie verrückt arbeiten. Die Aufgabe eines Landwirts ist es, zu produzieren. Nicht gleichzeitig Produzent, Verarbeiter und Verkäufer zu sein.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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