Schweiz bringt Schwung in deutsche Debatte
Ein Grundeinkommen für alle – ohne Kontrolle, ohne Bedürftigkeit, ohne Zwang zur Arbeit. Im Vorfeld der Schweizer Volksabstimmung wird das Bürgergeld auch in Deutschland so intensiv diskutiert wie selten zuvor. Die übliche politische Lagerbildung bricht dabei auf.
«Es wird in Zukunft einfach nicht mehr genügend Arbeitsplätze für alle geben», ist Michael Bohmeyer überzeugt. «Wir müssen daher Erwerbstätigkeit und Einkommen voneinander trennen», sagt der Berliner gegenüber swissinfo.ch. Der 31-Jährige Kreuzberger hat 2014 die Initiative «Mein Grundeinkommen»Externer Link gegründet und ist mittlerweile so etwas wie das junge undogmatische Aushängeschild der Bewegung in Deutschland.
Sein Credo: Handeln, statt nur Argumente auszutauschen: «Lasst uns das Konzept doch einfach einmal ausprobieren.» Also sammeln Bohmeyer und sein Team auf der Internetplattform der Initiative durch Crowdfunding Geld: Jedes Mal, wenn die 12’000 Euro-Grenze erreicht ist, wird ein Gewinner ermittelt, der ein Jahr lang ein bedingungsloses Grundeinkommen von monatlich 1000 Euro erhält. Fast 42’000 Menschen haben bisher gespendet. In Kürze wird das 40. Grundeinkommen ausgelost.
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«Was fehlt, wenn alles da ist?»
Bohmeyer weiss, dass ein paar verloste Grundeinkommen eher ein Experiment als ein echter Praxistest sind. Doch allein durch das grosse Medieninteresse an seiner Initiative hat das Thema weiter an Fahrt gewonnen. «Wir haben wiederum auch davon profitiert, dass das Konzept in der Schweiz und Finnland gerade zur Abstimmung steht beziehungsweise ausprobiert wird», sagt der Berliner.
Der junge Familienvater hat selbst erlebt, wie befreiend ein Grundeinkommen wirken kann. Als 22-Jähriger gründete Michael Bohmeyer ein Online-Unternehmen für Schilder, das rasch wuchs. 2014 stieg er als Geschäftsführer aus der profitablen Firma aus. Der soziale Druck im Arbeitsleben wurde ihm zu gross. Die 1000 Euro, die er sich seither monatlich auszahlt, helfen bei der Finanzierung eines Lebens, in dem wieder Raum für Kreativität und soziale Projekte entstanden ist. Wie sein Projekt zeigt, hat Bohmeyer die finanzielle Sicherheit nicht dazu genutzt, hedonistisch nur den eigenen Wünschen zu frönen.
«Ich bin kreativer geworden und auch ein besserer Vater», sagt er. Ebenso wichtig wie seine Lebensqualität ist für ihn der gesellschaftliche Überbau: Das Grundeinkommen sei kein Plädoyer für das Nichtstun und richte sich nicht gegen ökonomisches Handeln, betont er. «Arbeit ist etwas Wunderbares und macht Spass – wenn sie freiwillig und nicht aus ökonomischem Zwang geschieht.» Ihn freut, dass mittlerweile auch die Wirtschaft das Thema entdeckt hat.
Bis in die Chefetagen
Doch das sorgte anfangs durchaus für Verwunderung: Als der Chef der mächtigen Deutschen Telekom, Timotheus Höttges, in einem Interview mit der Wochenzeitschrift ZEIT ungefragt grosse Sympathien für die Idee bekundete, fragte Chefredakteur Giovanni di Lorenzo perplex nach, ob er den Manager richtig verstanden habe. Durchaus, bekräftigte Höttges: Wer Gesellschaften zukunftsfähig halten wolle, müsse offen für den Wandel und unkonventionelle Lösungen sein. Es gehe auch darum, der Spaltung der Gesellschaft entgegen zu wirken. «Ein bedingungsloses Grundeinkommen kann eine Grundlage sein, um ein menschenwürdiges Leben zu führen», so Höttges.
Grundsicherung in Deutschland
Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde in Deutschland das bestehende System aus Grundsicherung und Sozialleistungen ablösen und jedem – ob bedürftig oder nicht – ein Basiseinkommen garantieren. Für Befürworter liegt ein wichtiges Argument darin, dass dadurch die vermeintliche Stigmatisierung und Kontrolle der heutigen Bezieher von Transferleistungen entfiele.
Zugleich würde die heute notwendige Bürokratie überflüssig. Derzeit gibt es in Deutschland sowohl eine aus Steuern finanzierte Grundsicherung, die alten Menschen mit nicht ausreichender Rente sowie Menschen mit geminderter Erwerbsfähigkeit zusteht und ihren Lebensunterhalt sichern sollen.
Hinzu kommen so genannte Hartz IV Leistungen für arbeitssuchende Bürger im erwerbsfähigen Alter sowie deren Kinder. Bezieher beider Leistungen müssen zunächst eigenes Vermögen bis zu einer geringen Grenze aufbrauchen. Auch diese Vorgabe ist im Konzept der bedingungslosen Grundsicherung nicht vorgesehen.
Die üblichen politischen Lagerbildungen greifen bei dem Thema offensichtlich nicht: So sitzt als Befürworterin des Grundeinkommens die Parteichefin der Linken Katja Kipping in einem Boot mit dem Dax-Manager Höttges sowie dem Gründer der dm-Drogeriemarktkette Götz Werner. Zu den Gegnern zählen auf der anderen Seite unter anderem die linke Ikone Gregor Gysi sowie die Gewerkschaften und CDU-Chefin Angela Merkel. Die linksliberale Süddeutsche Zeitung warnt gar vor einer «brandgefährlichen Idee», die das auf Solidarität beruhende Sozialsystem aufs Spiel setze: Das Einkommen für alle wäre nicht mehr an Beiträge und Bedürftigkeit geknüpft, das Prinzip, dass der Starke für den Schwachen eintrete, somit ausgehebelt.
Die engagierte Diskussion spiegelt auch das Unbehagen in Deutschland angesichts wachsender sozialer Ungleichheiten wider. Während sich am oberen Ende der Gesellschaft Vermögen scheinbar selbsttätig mehren, sind immer mehr Alleinerziehende, Familien und Rentner auf staatliche Zuschüsse angewiesen. Diese Leistungen sind an Bedürftigkeit, Bedingungen und die Kontrolle durch eine engmaschige Bürokratie geknüpft. Unwürdig sei dies, finden viele.
Gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung
So auch Götz Werner. Der dm-Chef stellt die Menschenwürde ins Zentrum seines schon seit Jahren anhaltenden Werbens für das bedingungslose Grundeinkommen. Er hält die Gängelungen durch die Sozialbürokratie schlicht für unethisch, wie er in einem Interview deutlich machte: «Wie kann es sein, dass wir zulassen, dass ein Teil unserer Mitbürger ausgegrenzt und stigmatisiert wird? Die Verhältnisse müssen doch so sein, dass jeder eine Lebensperspektive hat.» Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde solche Verhältnisse schaffen.
Doch wer träte morgens noch den Weg zur Arbeit an, wenn er ohne Gegenleistung 1000 Euro im Monat erhielte, wenden Kritiker ein. Das Land würde zur Republik der Faulpelze. Dabei gibt in Umfragen eine Mehrheit an, auch mit einer Grundsicherung weiter einen Beruf ausüben zu wollen. Nur den anderen traut er das offensichtlich nicht zu. Götz Werner: «Wenn ich Menschen frage, ob sie noch arbeiten würden, sagen alle: ‹Ja, aber die anderen nicht.› Wir haben zwei Menschenbilder: Ein edles von uns und ein tierisches von unseren Mitmenschen. Davon sollten wir uns lösen.»
«Die Idee ist bezahlbar»
Dem häufigen Argument, das Konzept sei unbezahlbar, haben drei Ökonomen der Freien Universität Berlin widersprochen. Mit einem Steuersatz von 70%, so errechneten Robin Jessen, Davud Rostam-Afschar und Viktor Steiner, könnten jedem der rund 80 Millionen Bürger monatlich 800 Euro pro Erwachsenem und 380 Euro pro Kind ausgezahlt werden. Da die hohen Sozialabgaben im Gegenzug entfallen, sei dies nicht völlig unrealistisch. In jedem Fall würde das bedingungslose Grundeinkommen in Deutschland zu einer sozialen Umverteilung führen, so die Autoren. «Es stellt geringverdienende Paare sowie Haushalte mit Kindern tendenziell besser als der Status Quo.» Und eben das liege durchaus in einem gesamtgesellschaftlichen Interesse.
Schweiz stimmt ab
All diese Argumente klingen für Schweizer vertraut: Der grosse Unterschied: Die Eidgenossen haben im 5. Juni die Wahl, ob sie dieses Experiment eingehen wollen. In Deutschland handelt es sich derzeit um eine rein theoretische Debatte. Die parlamentarische Demokratie sieht keine bundesweiten Volksabstimmungen vor. Es bedürfte schon eines erheblichen öffentlichen Drucks, um das Thema auf die politische Agenda in Berlin zu heben. Noch dieser ist nicht gross genug.
Das anstehende Schweizer Votum hat daher auch die Forderung nach Volksabstimmungen in Deutschland wieder angefacht. Seit dem 15. April fährt der «Omnibus für die direkte Demokratie»Externer Link durch die Republik, um für sein Anliegen zu werben. Am 12. Mai soll der Doppeldeckerbus in Bern eintreffen. Dort wollen die Initiatoren dann als symbolischen Akt die offiziellen Schweizer Abstimmungshefte abholen, sie mit zurück nach Berlin nehmen und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages übergeben. Ihre Botschaft: So sieht eine Demokratie aus, die ihre Bürger ernst nimmt.
So schnell wird die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen jedenfalls nicht mehr aus der Öffentlichkeit verschwinden, ist Michael Bohmeyer überzeugt. «Es nimmt überall an Fahrt auf.» Und egal wie die Abstimmung in der Schweiz am 5. Juni ausgehen wird, für den Berliner ist die eidgenössische Kampagne bereits heute ein Erfolg. «Hut ab vor dem, was die Beteiligten in der Schweiz auf die Beine gestellt haben.»
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