Bedrängte Wirtschaft sendet gemischte Signale
Die Schweizer Wirtschaft hält dem externen Druck weiterhin Stand, aber hinter dem positiven Gesamtbild verbergen sich zunehmende Gewinnunterschiede zwischen verschiedenen Sektoren.
Die Konjunkturbeobachter haben ihre Wachstumsprognosen für das laufende Jahr etwas nach oben korrigiert. Sie zeigten sich überrascht von der Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft gegenüber verschiedenen Erschütterungen. Einige Industriebetriebe sind davon aber weiterhin betroffen.
Letzten Monat hatte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) optimistischere Töne verlauten lassen und ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 0,8% für dieses Jahr vorausgesagt.
Das bedeutet zwar keineswegs, dass sich die Wirtschaft in Richtung Höchstleistung bewegt, aber die Zeichen stehen damit etwas besser als noch im Dezember 2011, als ein Wachstum von 0,5% prognostiziert wurde. Sie weisen darauf hin, dass die Schweiz einer Rezession, wie sie andere europäische Länder erfahren, entkommen dürfte.
Die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) korrigierte ihre BIP-Prognose für 2012 von 0,2% vom Dezember auf 0,8% im März. Auch das Forschungsinstitut BAK Basel änderte seine Prognose von 0,3 auf 0,7%.
Divergierendes Wachstum
«Im Dezember erwarteten wir Stagnation oder sogar ein negatives Wachstum für die ersten beiden Quartale dieses Jahres», sagt KOF-Leiter Jan Egbert Sturm gegenüber swissinfo.ch.»Aber es sieht so aus, als ob die Talsohle bereits im Winter erreicht worden wäre.»
«Das bescheidene Wachstum von 0,8% kann nicht als optimistisch bezeichnet werden, aber wir waren von der Widerstandskraft der Schweizer Wirtschaft überrascht.»
Die Prognosekorrektur folgte auf Fortschritte im Kampf gegen die europäische Verschuldungskrise, die sich Ende letzten Jahres wesentlich schlimmer präsentiert hatte.
Aber das Bild könnte in den verschiedenen Wirtschaftssektoren kaum unterschiedlicher sein. Die Exporte der Pharma- und Uhrenindustrie haben in den letzten Monaten einen eigentlichen Boom erfahren. Die Baubranche im Inland hat von einem prosperierenden Grundstücksmarkt profitiert.
Zu den grössten Verlierern gehören die Maschinen- und Textilindustrie sowie der Tourismus infolge einer krisengeschüttelten Wirtschaft in verschiedenen europäischen Ländern und dem starken Frankenkurs.
Auch der Finanzsektor hat gelitten, nämlich unter dem tiefen Zinsniveau, einer risikoscheuen Kundschaft sowie drohenden strengeren Regulierungen und globalen Angriffen gegen Steuerflucht.
«Wir haben noch nie so grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Sektoren erlebt», sagt Sturm.
Gewinne und Verluste
Wenn man die Leistung einzelner Unternehmungen analysiert, zeigen sich sogar Unterschiede innerhalb des gleichen Industriezweigs.
Der Winterthurer Textilmaschinen-Hersteller Swiss Tex befindet sich in einem Schrumpfungsprozess; 80 der 91 Angestellten sind von Arbeitslosigkeit bedroht.
Aber der ebenfalls in Winterthur domizilierte Textilmaschinenproduzent Rieter scheint die Flaute nach umfassenden Restrukturierungs-Massnahmen – dazu gehörten Entlassungen, Produktionsverlagerungen nach Asien sowie die Überführung der Division für Automobilteile in eine separate Unternehmung – überwunden zu haben.
Rieters Absatzzahlen verzeichneten im letzten Jahr einen grossen Sprung nach oben. Getrübt wurde dieses Resultat aber von einem Rückgang neuer Bestellungen um einen Drittel. Die Auftragsbücher vieler Exportindustrieller wurden Ende 2011 dünner, was einen Produktionsrückgang für das laufende Jahr anzeigte.
Das Seco erwartet einen Anstieg der Arbeitslosenrate von gegenwärtig 3,1 auf einen Höchstpunkt von 3,7% bis Ende 2013.
Öl-Schock?
Für kleinere Firmen dieses Industriezweigs zeigt sich gemäss verschiedenen Umfragen ein nicht minder vielfältiges Bild.
Laut der Osec, einem halböffentlichen Verein zur Förderung der Exporte der Kleinen und Mittleren Unternehmungen (KMU), sind die Gewinne von rund 79% der KMU wegen des starken Frankenkurses geschrumpft. 2010 waren davon 58% betroffen.
Welche Wirkung die Massnahmen der Nationalbank zur Stützung des Eurokurses bei CHF 1.20 auf die Wirtschaft haben werden, bleibt abzuwarten. Einzelne Lobbygruppen haben die Massnahmen als ungenügend bezeichnet.
Eine Umfrage der SME Consulting, einer Beratungsfirma für Kleinere und Mittlere Unternehmungen, wirft widersprüchliche Fragen auf, zumal sich die Unternehmungen nicht einig sind darüber, was ihnen in den nächsten Monaten bevorsteht.
Ein Viertel der befragten Unternehmungen erwarten höhere Einnahmen in diesem Jahr. Ebenfalls ein Viertel rechnet mit einem Rückgang. Nur 10% erwarten höhere Gewinnmargen. Die restlichen prognostizieren gleiche oder geringere Gewinne.
Viele Firmen haben grosse Angst vor einem plötzlichen Preisanstieg für Rohstoffe, vor allem für Öl.
Aber wo es Verlierer gibt, hat es gemäss KOF auch Gewinner für den Fall eines rasanten Preisanstiegs – ein weiteres Beispiel für die ungleichmässige Verfassung, in der sich die Schweizer Wirtschaft für eine ungewisse Zeit befindet.
Das Wachstum des Handels mit Konsumgütern könnte den Schaden der Industrie ausgleichen, so Sturm.
«Unsere Simulationen zeigen, dass wenn der Ölpreis auf 1$50 pro Barrel ansteigen würde, hätte dies kurzfristig keine nachteiligen Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft», sagt Sturm gegenüber swissinfo.ch. «Der Handel würde profitieren, dank höherer Wertschöpfung bliebe das BIP unverändert. Aber für den Arbeitsmarkt wäre es sicher nicht hilfreich.»
KOF-Prognose (März 2012)
BIP-Wachstum: 0,8% (2012); 1,9% (2013)
Arbeitslosenrate: 3,2% (2012); 3,2% (2013)
Inflationsrate: -0,4% (2012); +0,8% (2013)
Exportwachstum: 0,8% (2012); 4,7% (2013)
Importwachstum: 3,7% (2012); 7,9% (2013)
Konsumwachstum im Inland: 1,7% (2012); 1,8% (2013)
Seco-Prognose
BIP-Wachstum: 0,8% (2012); 1,8% (2013)
Arbeitslosenrate: 3,4% (2012); 3,7% (2013)
Inflationsrate: -0,4% (2012); +0,4% (2013)
Exportwachstum: 1,3% (2012); 4,5% (2013)
Importwachstum: 1,7% (2012); 4,5% (2013)
Konsumwachstum im Inland: 1,2% (2012); 1,6% (2013)
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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