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Belarus verurteilt Schweizerin zu 30 Monaten

Hersche
Natallia Hersche twitterte am Vorabend ihrer Verhaftung dieses Bild aus einem Restaurant in Minsk. Twitter

Der schlimmste Fall ist eingetreten. Die Schweizerin Natallia Hersche ist in Belarus zu zwei Jahren und 6 Monaten Strafkolonie verurteilt worden.

Ihr Vergehen beging sie am 19. September, einem Samstag, während eines Frauenmarschs in Minsk.

Natallia Hersche (51) riss einem belarussischen Bereitschaftspolizisten die Sturmhaube aus dem Gesicht.

Hersche ist belarus-schweizerische Doppelbürgerin. Den entstandenen Schaden beziffern die Gerichtsakten wie folgt: «Die Grösse des Kratzers in der Nähe des Auges betrug 1 Zentimeter, die Kosten für eine Sturmhaube 1 Rubel.»

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Aus ihrer Kritik an Weissrusslands autokratischem Staatschef Alexander Lukaschenko hatte Hersche kaum je einen Hehl gemacht. Davon zeugen entsprechende Karikaturen auf ihrem Facebook-ProfilExterner Link.

Nach dem Zwischenfall im September ging es direkt in die Untersuchungshaft. Dann eröffnete Weissrussland gegen die Frau mit Schweizer Pass ein penibel, geradezu schikanös geführtes Strafverfahren wegen «Gewalt gegen einen Beamten des Innenministeriums». 

Vergeblicher Support der Botschaft

Jetzt ist das Urteil da. Zur drakonischen Strafe von 30 Monaten Haft verfügte der Richter auch eine materielle Entschädigung in Höhe von 1000 Rubel (346 Schweizer Franken) zugunsten der Bereitschaftspolizei.  

Hersche lebt laut Medienberichten seit 12 Jahren in der Schweiz, Weissrussland hatte sie vor 17 Jahren verlassen. Seit zwei Jahren ist die verwitwete Mutter zweier erwachsener Kinder im St. Gallischen erneut mit einem Schweizer verheiratet.

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Der Schweizer Botschafter in Belarus, Claude Altermatt, war bei der Verhandlung anwesend. «Wir bedauern diese Gerichtsentscheidung. Wir behandeln sie als unsere Staatsbürgerin», sagte der Botschafter in einer ersten Reaktion gegenüber der Webseite Radio LibertyExterner Link. Er hatte die Schweizerin gemäss eigenen Kundgaben auf Twitter wiederholt in U-Haft besucht.

Auch Aussenminister Ignazio Cassis selbst hatte am 28. Oktober seinen weissrussischen Amtskollegen Vladimir Makei angerufen und um die Freilassung der Schweizerin gebeten.

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Eine Allianz von 18 Schweizer Nationalräten und Parlamentarierinnen wandte sich zudem Ende Oktober in  einem offenen BriefExterner Link an die Behörden von Belarus. Der Brief wurde vom Schweizer Botschafter in Minsk weitergeleitet. Lars Bünger von der Menschenrechtsorganisation Libereco, die sich für Hersches Freilassung einsetzte,  kommentiert: «Wir sind schockiert über das Urteil. Wir betrachten Natallia Hersche als eine politische Gefangene und Geisel des Lukaschenko-Regimes.»

«Ich lebe in einer Demokratie»

«Ich lebe in einer europäischen Demokratie, in der die Meinungsfreiheit und die friedliche Versammlung in der Verfassung bedingungslos respektiert und definiert werden und in der Polizisten ihre Gesichter nicht unter Masken verstecken. Ich hoffe, es wird auch in einem freien Weissrussland dereinst so sein», sagte Natallia laut dem lokalen Medienbericht in einer abschliessenden Erklärung vor Gericht.

Natallia Hersche hielt sich in Weissrussland auf, weil sie ihre Ferien wegen Corona nicht wie geplant im Süden verbringen konnte. «Für sie war es, als habe sich ihr Land aus seiner bleiernen Erstarrung gelöst. Endlich. Sie wollte beim Aufbruch dabei sein. Live, vor Ort», beschrieb der «Tages-Anzeiger»Externer Link ihr Engagement, gestützt auf Angaben ihres Gatten.

In einem Brief an ihn, den die Inhaftierte aus der U-Haft schrieb, steht: «Wenn ich damit anfange, die Haftbedingungen zu beschreiben, dann wird dieser Brief nicht verschickt. Momentan ist alles einigermassen in Ordnung, man kann damit leben, es ist warm.» 

Intensiviertes Engagement in Minsk

Erst im Februar hatte die Schweiz ihr Verbindungsbüro in Minsk zu einer Botschaft aufgewertet. Zuvor war das Handelsvolumen zwischen den beiden Staaten rasant gewachsen – auf 194 Millionen Franken im Jahr 2019. Massgeblich daran beteiligt waren Aufträge an den Schweizer Eisenbahnfabrikanten Stadler Rail. Die Schweiz wertete Belarus als möglichen Hub für weitere wirtschaftliche Engagements in der Region.

Nach dem Urteil meldete das Schweizer Aussenministerium, es evaluiere nun die nächsten Schritte. Einzelne Politiker forderten umgehend Sanktion für Lukaschenko und sein Regime.

Botschaftseröffnung in Minsk im Februar 2020: Ignazio Cassis stösst mit seinem weissrussischen Amtskollegen Vladimir Makei (l.) und Botschafter Claude Altermatt (r.) an. Keystone / Tatyana Zenkovich

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