Betty Bossi – die unsterbliche Influencerin
Betty Bossi, die fiktive Köchin der Schweiz, lief im Corona-Lockdown zu Hochform auf.
Dieses Jahr fühlte sich Betty Bossi schon fast ein bisschen wie Helvetia. In der Corona-Pandemie wollte sie da sein für die Menschen in diesem Land. AIs diese nicht mehr in die Restaurants durften und zurückgedrängt wurden an den eigenen Herd, schlug Betty Bossis Stunde.
Sie schaltete ihre sonst kostenpflichtigen digitalen Rezepte aus 120 Koch- und Backbüchern frei und zeigte den Bürgerinnen und Bürgern, wie man Burger brät und Bananenbrote bäckt. Wie immer mit Gelinggarantie. Und es funktionierte. Einmal mehr. Die Schweizerinnen und Schweizer haben ihre Webseite über zehn Millionen Mal besucht. In einem Monat.
Virtuelle Schweizer Lichtgestalt
Betty Bossi und Helvetia haben etwas gemeinsam: Sie existieren nicht wirklich. Und doch sind sie Schweizer Lichtgestalten, die jede und jeder zu kennen glaubt: Helvetia, die mit einem Speer bewehrt auf der Rückseite der Ein- und Zweifrankenstücke im Strahlenmeer steht. Und Betty Bossi, die an den Herd tritt und den Leuten seit Jahr und Tag dabei hilft, eine der schwierigsten Fragen zu beantworten: Was soll ich heute kochen?
In den Betty-Bossi-Küchen in Basel und Zürich werden jedes Jahr um die 2500 Rezepte kreiert. Die Zeitung erscheint zehnmal pro Jahr und hat eine Auflage von 540’000 Exemplaren. Sie ist damit die grösste Bezahlzeitung der Schweiz. Die Webseite wird pro Monat knapp 3 Millionen Mal besucht, seit Beginn der Corona-Pandemie wesentlich häufiger. Die Rezepte werden auch über die sozialen Kanäle verbreitet: Den täglichen Newsletter erhalten 520’000 Personen.
Seit bald 65 Jahren gehört Betty Bossi zur Grundausstattung des Landes. Höchste Zeit also, einmal zu fragen, was ihr unermüdliches Schaffen denn gebracht hat. Haben ihre Kochbücher die Schweizer Haushalte tatsächlich «nachhaltig beeinflusst», wie das im Historischen Lexikon der Schweiz steht? Oder würden wir das Gemüse immer noch mit weissen Mehlsaucen überziehen, wenn nicht Betty Bossi in unser Leben getreten wäre?
«Was soll ich heute kochen?» Erst stellte Betty Bossi die Ausgangsfrage, dann lieferte sie Tausende Koch- und Backrezepte.
1956 erschien die erste Betty Bossi-Post, ein doppelseitig bedrucktes Informationsblatt, das in Läden gratis aufgelegt wurde. «Was soll ich heute kochen?» Das war der Titel des allerersten Artikels.
Der Text kam so daher, als hätte Betty Bossi ihn selber verfasst. Ein Bild zeigte die strahlende Frau. Am Ende des Artikels stand ihre Unterschrift.
Ermunterung einer Freundin
Auf diesem Informationsblatt war schon fast alles da, was Betty Bossi auch heute noch ausmacht. Sie bot sich ihren Leserinnen als Freundin an, die ihnen nicht bloss alles vorkauen, sondern sie ermächtigen wollte. Sie ermunterte sie, einen Menuplan zu erstellen, damit das Essen gut und abwechslungsreich wird, es keine Resten gibt und am Ende der Woche etwas Geld übrigbleibt.
Und sie präsentierte ein halbes Dutzend Rezepte, darunter dieses für einen Brotauflauf mit Äpfeln: 300 Gramm Brotresten, ein halber Liter Milch, 3 Eier, 60 Gramm «Astra-10», 300 Gramm Äpfel, 80 Gramm Zucker, 2 Löffel Sultaninen, abgeriebene Zitronenschale.
Kunstfigur im Dienste von Unilever
«Astra-10»: Das war der springende Punkt. Betty Bossi wollte nicht nur die Freundin der Hausfrauen sein, sie wollte diese auch dazu bringen, die Fette, Öle und Margarinen der Firma Astra zu verwenden, die ihr Werk in Steffisburg bei Thun betrieb und zum Unilever-Konzern gehörte. Damit ist es gesagt: Betty Bossi war von Anfang an eine Kunstfigur, die auf Wechselwirkung ausgelegt ist, aufs Geben und aufs Nehmen – eine Influencerin.
Und das Rezept, das die Werbetexterin Emmi Creola-Maag in den USA aufgespürt hatte, wo es eine Frauenzeitschrift namens «Betty Crocker» gab, funktionierte auch in der Schweiz hervorragend: Mit der Betty Bossi Post ging für Betty Bossi die Post ab.
Der Historiker Benedikt Meyer sagt dazu, das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg habe nicht nur Autos, Fernseher und neue Frisuren gebracht, sondern auch eine neue Küche – und zwar wörtlich: Elektrische Öfen, Mixer, Rühr- und Knetmaschinen eröffneten neue Möglichkeiten, und die Läden boten immer neue Produkte an.
Der Erfolg war immens. Die Zeitung, die später abonniert werden konnte, wird auch heute noch hunderttausendfach gelesen. Als 1984 das Dessert Tiramisu vorgestellt wurde, war der Mascarpone innert kürzester Zeit und überall in der Schweiz ausverkauft.
In praktisch jedem Schweizer Haushalt
Von den Koch- und Backbüchern, von denen 1973 das erste erschien, sind 35 Millionen verkauft worden. «Kuchen, Cakes und Torten» ist mit 1,35 Millionen Exemplaren das erfolgreichste unter ihnen. Der Vergleich, um diesen Erfolg zu veranschaulichen: Würde man alle verkauften Kochbücher nebeneinander legen, könnte man auf ihnen von der Schweiz nach Amerika spazieren.
Noch anschaulicher ist womöglich der Blick in die eigene Wohnung. Fällt einem nicht immer irgendwo eines ihrer Kochbücher, eine Zeitung oder ein herausgerissenes Rezept in die Hände, wenn man eine Schublade aufräumt? Oder Teighölzer, Ausstechformen oder im schlimmsten Fall ein Waffeleisen auf die Füsse, wenn man einen Schrank öffnet?
Denn auch darin hat sich Betty Bossi hervorgetan: Sie entwickelt und verkauft am Laufmeter sogenannte Küchen- und Haushaltshelfer. Kein Zweifel, die Schutzpatronin aller Singles, die Allzweckwaffe gegen Langeweile in der Küche, die Hüterin des eiligen Grills oder wie sie sonst schon genannt wurde, ist quicklebendig.
120 Mitarbeitende, Millionen-Erlöse
Das Unternehmen Betty Bossi, das bei neuen Trends wie TV-Kochshows, Online-Plattformen oder glutenfreie Nahrungsmittel nie etwas anbrennen liess, gehört seit 2012 zu hundert Prozent Coop, einem der beiden Schweizer Detailhandelsriesen. Die Betty Bossi AG beschäftigt in Basel und Zürich 120 Mitarbeitende und erwirtschaftete 2019 einen Nettoerlös von 81 Millionen Franken.
Der Gang durch einen Coop-Supermarkt macht es klar: Die Marke ist mit über 600 Produkten omnipräsent. Nebst den Artikeln im Bereich Backen gibt es immer mehr Fertig- und Halbfertig-Produkte wie Salate, Sandwiches und ganze Menus.
Aber klingt nicht gerade das wie ein kolossaler Widerspruch, wenn Betty Bossi den Schweizerinnen und Schweizern, denen sie jahrzehntelang das Kochen beibringen wollte, plötzlich Fertigprodukte auftischt? Wahrscheinlich geht es nicht anders und man muss Viviane Bühr, ihrer Pressesprecherin, Recht geben: Die Zeit ist heute eine komplett andere als vor 60 Jahren.
Die Menschen bewegen sich weniger und wollen auch nicht mehr jeden Tag zwei Stunden in der Küche stehen. Sie spricht von globalen Ess- und Verhaltenstrends, welche die Schweizer Küchen beeinflussen – und im Übrigen auch dazu führten, dass die nahrhaften weissen Mehlsaucen verschwanden.
Die Bettys und Bossis, so nennt Viviane Bühr die Mitarbeitenden, beobachten diese Trends und reagieren darauf, indem sie neue Rezepte kreieren und Food-Produkte entwickeln. Wie für alle Unternehmen geht es darum, mit der Zeit zu gehen, sagt sie, «damit es uns in Zukunft noch gibt». Bisher hat das gut geklappt. «Für unsere Grösse liegen wir richtig gut im Rennen», sagt sie.
Dass Betty Bossi mit der Zeit geht, verübelt ihr sicher niemand. Als Kunstfigur ist sie diesbezüglich dank ihrer Unsterblichkeit ohnehin im Vorteil. Die Frage ist bloss, wie sie damit zurechtkommen und was sie in Zukunft anrichten wird. Wie reagiert sie auf die Konkurrenz, die ihr zunehmend erwachsen ist? Als sie selber vor Jahrzehnten ins Influencer-Geschäft eingestiegen ist, gab es noch keine Foodblogs, das Kochbuchangebot war noch überschaubar. Werden ihr nochmals Rezepthits wie der getränkte Zitronencake oder das Partyfilet gelingen?
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Schweizer Revue.Externer Link Er wurde am 4. März 2021 in kleinen Punkten korrigiert.
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