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Das Tessin als Rückzugsort für Terroristen

Le auto crivellatr di colpi in Via Fani durante il sequestro Moro
Ein Tag vor 40 Jahren, der Italien erschütterte: Der überfallene Autokonvoi der Via Fani, beim dem fünf Leibwächter starben und Aldo Moro entführt wurde (Rom, 16. März 1978). Keystone

Während der so genannten bleiernen Jahre, als in den 1970er und 1980er Jahren der linke Terrorismus in Europa wütete, hielten sich in der Schweiz, aber insbesondere im Kanton Tessin Terroristen und Extremisten aller Art auf. Sie unterhielten dort logistische Basisstationen. Viele Details sind bis heute nicht bekannt.

«Das Tessin nahm vor allem eine Rolle als Rückzugsort ein», sagt Paolo Bernasconi, der von 1969 bis 1985 in Lugano als Staatsanwalt tätig war. Es war ein Ort, wo gesuchte Terroristen untertauchten und «Strukturen für illegale Finanzaktivitäten aufbauten». Dabei ging es insbesondere um das Waschen von Geldern, die aus Erpressungen und Überfällen stammten. Paolo Bernasconi erinnert sich etwa an Toni Negri in Carona bei Lugano und Valerio Morucci im Locarnese.

«Das Tessin nahm vor allem eine Rolle als Rückzugsort ein.»

Im Südkanton tauchten Militante der unterschiedlichsten aufständischen Bewegungen auf, etwa der italienischen Roten Brigaden (Brigate rosse), der deutschen Roten Armee Fraktion (RAF), von palästinensischen Terrorzellen oder sogar der Aktionszellen Mussolini (Squadre d’Azione). «In Wirklichkeit wissen wir sehr wenig über die Rolle des Tessins in dieser Zeit; nur die Spitze des Eisbergs wurde bekannt», meint der ehemalige Staatsanwalt.

Im Tessin tauchten eher zweitrangige Vertreter von Bewegungen unter, gegen die in Italien ermittelt wurde. «Wir verhafteten ein Trio, das sich in der Schweiz aufhielt, um erpresstes Geld aus einem Entführungsfall zu waschen», sagt Paolo Bernasconi. Er bezieht sich auf die Verhaftung einer umstrittenen Persönlichkeit, Carlo Fioroni, und zwei seiner Genossen, die am 16.Mai 1975 in Bellinzona erfolgte. Diese versuchten damals, auf der Bank 67 Millionen Lira umzutauschen, die als Lösegeld für Carlo Saronio bezahlt worden waren.

Nicht nur linke Terroristen

Paolo Bernasconi erinnert sich an einen anderen Fall: «Wir verhafteten ein Trio, das mit der deutschen RAF verbandelt war.» Diese Personen hätten versucht, in Lugano Lösegeld aus der Entführung des Industriellen Walter Michael Palmers zu waschen.

Doch das Tessin war auch ein Territorium, in dem einige italienische Terroristen der extremen Rechten Unterschlupf suchten, namentlich während der Phase der «Strategie der Spannung». Gemeint ist damit die Absicht einiger Rechtsextremer, unter «falscher Flagge» Anschläge zu verüben, um die öffentliche Meinung zu Ungunsten der politischen Linken zu manipulieren. Den Tessiner Ermittlern ist es aber nie gelungen, Details über deren Aufenthalt im Tessin zu eruieren.

Dies lag auch daran, dass die Ermittlungsbehörden im Tessin vor allem damit beschäftigt waren, mögliche terroristische Aktivitäten auf Schweizer Boden einzudämmen. «Als Staatsanwalt war ich damals bemüht, möglichst viele Abgetauchte auszuliefern. Denn sonst hätten wir in der Schweiz ausserordentliche Sicherheitsmassnahmen ergreifen müssen, zuerst während eines Prozesses, dann – im Falle einer Verurteilung – rund um die Strafvollzugsanstalten, um Attentaten vorzubeugen», erinnert sich Bernasconi.

«Als Staatsanwalt war ich damals bemüht, möglichst viele Abgetauchte auszuliefern.

Palästinensischer Terrorismus

Die Bundesbehörden verfolgen eine analoge Strategie, wie der Fall einer Gruppe von Palästinensern zeigt, die verhaftet wurden, nachdem sie mit Sprengstoff zu Fuss über die Grenze ins Tessin gelangt waren. Alle hatten eine rote Tasche, in der sich Granaten befanden. Sie überquerten die Grenze alleine, um nicht aufzufallen. «Wir übergaben sie Bern; was danach geschah, wissen wir nicht», präzisiert der ehemalige Staatsanwalt von Lugano. Offenbar geht er aber davon aus, dass sie ausgeliefert wurden.

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die Schweiz direkt und indirekt Schauplatz von Attentaten palästinensischer Prägung war. Am 18.Februar 1969 schossen vier Terroristen in Zürich-Kloten auf ein Flugzeug der israelischen Fluggesellschaft El-Al. Der Pilot kam ums Leben. Am 21. Februar 1970 explodierte auf einem Swissair-Flug von Kloten nach Tel Aviv eine Bombe, die sich in einer Postsendung im Laderaum befand. Das Flugzeug stürzte in einen Wald nahe Würenlingen (Kanton Aargau) ab. 38 Passagiere und neun Besatzungsmitglieder fanden den Tod.

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Sechs Monate später, am 7. September 1970, holten Kämpfer der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) zum damals grössten Schlag gegen die internationale Zivilluftfahrt aus. Sie zwangen in einer koordinierten Aktion je ein Flugzeug der Swissair, der britischen BOAC und der amerikanischen TWA in der jordanischen Wüste in Zerqa zu landen, um die Maschinen anschliessend zu sprengen. Gemäss umstrittenen – und bisher nicht bewiesenen – Enthüllungen soll es just im September 1970 ein Abkommen zwischen der Schweizer Regierung und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gegeben haben, um die Schweiz aus der Schusslinie der Terroristen zu nehmen. Im Zusammenhang mit dem Flugzeug-Absturz von Würenlingen kam es zu keiner Anklage; die Geiseln von Zarka wurden befreit.

Ein Prozess im Tessin

In der italienischen Schweiz kam es damals nur zu einem einzigen Prozess wegen terroristischen Handlungen. Dieser fand 1981 am Strafgericht von Locarno statt. Fünf Personen wurden zu Freiheitsstrafen von höchstens 2 Jahren und 7 Monaten verurteilt. Es waren Tessiner Mitläufer von linken Extremisten in Italien. Sie hatten zwischen 1972 und 1973 logistische Hilfe und Material aus Schweizer Militärbeständen an ihre Genossen geliefert.

«Der Staatsanwalt von Treviso gab mir die Information, dass sich einige Gruppen der extremen Linken militarisierten und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten.»

Dieser Fall war durch ein ungewöhnliches Vorgehen des damaligen Staatsanwalts Paolo Bernasconi ans Licht gekommen. Er war auf eigene Initiative und ohne die Polizei zu informieren nach Treviso gereist, um mit dem dortigen Staatsanwalt Pietro Calogero zu sprechen. «Dieser gab mir die Information, dass sich einige Gruppen der extremen Linken militarisierten und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten», so Bernasconi.

Bei dieser Gelegenheit erhielt Bernasconi in Venetien Protokolle, welche die Verwicklung von Personen aus dem Tessin dokumentierten. Diese Protokolle liess Bernasconi den Kollegen aus dem nördlichen Tessin (Sopraceneri) zukommen, welche territorial zuständig waren und den Prozess anstrengten.

Der Fall Lojacono Baragiola

Ein Fall für sich ist die Geschichte um den ehemaligen Rotbrigadisten Alvaro Lojacono Baragiola. Er war in Italien zu 16 Jahren Gefängnis für den Mord an dem griechischen Studenten Miki Mantakas verurteilt worden sowie in Abwesenheit im Prozess um den Mord an Aldo Moro zu lebenslänglicher Haft. Alvaro Lojacono Baragiola soll damals bei der Entführung in der Via Fani in Rom das Auto des Präsidenten der Christlich-demokratischen Partei (DC) blockiert haben. Er flüchtete später ins Tessin, wo es ihm gelang, die Schweizer Staatsbürgerschaft sowie den Nachnamen «Baragiola» seiner Mutter anzunehmen.

Externer Inhalt

In der Schweiz wurde der ehemalige Rotbrigadist 1988 verhaftet und zu 17 Jahren Gefängnis wegen des Mordes an Richter Girolamo Tartaglione verurteilt. Da die Schweizer keine eigenen Staatsbürger ausliefern, wurde Baragiola nicht wegen Mithilfe am Mord von Aldo Moro nach Italien überstellt. Er hat in der Schweiz keine Pendenzen mehr mit der Justiz, nachdem er seine Haftstrafe abgesessen hat. Die Schweizer Ermittlungen waren in diesem Fall sowieso nur ein kleiner Reflex von Ereignissen, die in Italien ausgedacht und durchgeführt worden waren. 

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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