Harter Brexit: Schweizer Unternehmen proben den Notfall
Sich auf das Schlimmste vorbereiten und gleichzeitig auf das Beste hoffen: Dies ist die Haltung bei Schweizer Unternehmen angesichts des andauernden Chaos rund um den Austritt Grossbritanniens aus der EU.
Die anhaltende Unsicherheit betreffend der künftigen Beziehungen der Insel mit der EU strapaziert zunehmend die Geduld vieler Schweizer Unternehmen, die mit Grossbritannien Handel treiben.
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Knapp drei Viertel sind besorgt
Die jüngste Umfrage des Beratungsunternehmens DeloitteExterner Link ergab, dass die Sorgen und Zweifel bei der Schweizer Wirtschaft tatsächlich gewachsen sind. Deloitte befragte die Finanzchefs (CFOs) von mehr als 100 grossen Schweizer Unternehmen.
Im Allgemeinen sind mehr CFOs pessimistisch als in der vorherigen Umfrage im September 2018. Protektionismus und geopolitische Faktoren sind die grössten Faktoren auf dem Sorgenbarometer.
Handelsbeziehungen
Grossbritannien zählt zu den grössten Handelspartnern der Schweiz. Die Insel war 2018 der sechstgrösste Exportmarkt der SchweizExterner Link (8,8 Mrd. Franken) und die achtgrösste Importquelle der Schweiz (7,7 Mrd. Franken).
Die durch den Brexit verursachte Unsicherheit steht weiterhin weit oben auf der Prioritätenliste der CFOs. Insgesamt zeigten sich 74 Prozent der Unternehmer besorgt über die Situation, verglichen mit 61 Prozent in der vorherigen Umfrage. Eine grosse Mehrheit der befragten Führungskräfte (81 Prozent) erwartet für Grossbritannien in den nächsten zwei Jahren eine Rezession.
«Die Angst vor eine Rezession in Grossbritannien ist bei Schweizer Unternehmen überraschend gross», sagt Michael Grampp, Chefökonom von Deloitte. Viele fürchten, dass die düsteren Aussichten auch die Schweizer Wirtschaft negativ beeinflussen könnten.
Anfang dieses Monats schrieb Switzerland Global Enterprise (S-GE), ein Verein, der die Aussenwirtschaft der Schweiz und von Liechtenstein fördert: «Je nachdem, wie sich der Austritt Grossbritanniens aus der EU gestalten wird, können sich indirekte Auswirkungen für international aktive Schweizer und Liechtensteiner Firmen ergeben. Es bleibt unsicher, wie sich die Wirtschafts- und Konjunkturlage in beiden Wirtschaftsräumen und die Nachfrage nach Schweizer Gütern entwickeln wird und ob allenfalls Wertschöpfungs-Ketten reorganisiert werden müssen.»
Minimierung von Störungen
Berichten zufolge bereiten sich Schweizer Unternehmen auf mehrere Szenarien vor, um Probleme in den Lieferketten, bei der Verfügbarkeit von Produkten sowie dem Personalbestand zu begrenzen
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Der Nahrungsmittelkonzern Nestlé teilte gegenüber swissinfo.ch mit, dass er auf gute Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU baue. Diese seien für beide Seiten von Vorteil und ermöglichten den Unternehmen freien Handel.
«Die Aussicht, dass Grossbritannien die EU ohne Austritts-Regelungen verlässt, ist besorgniserregend und würde die Lebensmittel- und Getränkeindustrie vor grosse Herausforderungen stellen. Für uns hat Priorität, den Zugang der Konsumenten zu Lebensmitteln und Getränken sowohl in Grossbritannien als auch in anderen europäischen Ländern unabhängig von der endgültigen politischen Regelung sicherzustellen», so das Unternehmen weiter.
Nestlé beschäftigt in Grossbritannien und Irland rund 8000 Mitarbeiter, verteilt auf 20 Standorte.
Syngenta, der Basler Agrochemie-Riese, erklärte gegenüber swissinfo.ch, dass er weiterhin hoffe, dass Grossbritannien und die EU Vorkehrungen treffen können, um einen geordneten Übergang zu gewährleisten. Der geordnete Brexit ermögliche eine kurz-, mittel- und langfristige Geschäftskontinuität.
«Wir sind zuversichtlich, dass wir mögliche Auswirkungen eines Austritts Grossbritanniens ohne formale Übergangsregelung bewältigen können, insbesondere in Bezug auf unsere 2000 britischen Mitarbeitetenden an fünf Standorten», hiess es bei Syngenta.
Die Grossbank Credit Suisse gibt an, zurzeit mit zuständigen Aufsichtsbehörden, Mitarbeitern und Stakeholdern über mögliche Lösungen zu diskutieren. Man spreche über alternative Standorte wie Madrid, Frankfurt und Luxemburg, teilte die Bank mit.
Sie erklärte gegenüber swissinfo.ch, dass der Standort London auch nach einem Austritt Grossbritanniens aus der EU einen wichtigen Platz in der Geschichte der Bank einnehmen werde.
Wenn alles andere schief geht
Viele Unternehmen geben sich zugeknöpft, was ihre konkreten Vorbereitungen anbelangt. Nicht wenige sprechen von Notfallplänen, die auch Vorratslager einschliessen.
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Und das tun auch die Briten selbst. Mehrere britische Minister haben insbesondere vor medizinischen Engpässen gewarnt. Solche könnten Auswirkungen sowohl auf die Menschen als auch die Pharmaindustrie haben.
Das Schweizer Pharmariese Roche betont, dass er alles unternehmen werde, um sicherzustellen, dass Patienten sowohl in Grossbritannien als auch auf dem europäischen Festland weiterhin Zugang zu Medikamenten und neuen Produkten hätten.
Gemäss eigenen Angaben hat das Unternehmen den erforderlichen Lagerbestand für einzelne Produkte ermittelt. Auch nimmt es am Medicines Supply Contingency Planning ProgrammeExterner Link teil. Es ist dies das Notfallprogramm des britischen Gesundheitsministeriums.
Roche plane, «für alle unsere Produkte zusätzlich zu den hohen Lagerbeständen, die wir bereits standardgemäss haben, bis Ende März einen weiteren Vorrat für mindestens sechs Wochen aufzubauen», sagte ein Sprecher.
Auch Nestlé erhöht die Vorräte. Das Unternehmen unterstützt die Forderung von FoodDrinkEuropeExterner Link nach Notfallmassnahmen, um die Auswirkungen einer No-Deal-Situation für Verbraucher und Unternehmen zu mindern.
Diese Massnahmen beziehen sich auf die Verzollung, Kennzeichnung, bereits in Verkehr gebrachte Waren, Lebensmittelsicherheit und die Zertifizierung von Bio-Produkten.
Der Verband erklärte, dass bei einem No-Deal-Szenario die «ganze Lebensmittelbranche verlieren wird». Dies, weil Importzöllen erhoben würden, die sowohl für Lieferanten und Einzelhändler als auch die Verbraucher zu höheren Preisen führen .
Uhren und Schokolade
Die Aussichten bei einem ungeregelten Brexit sind düster, die Situation angespannt. Da tut folgende Meldungen zum Abschluss gut: Wie Bloomberg im Februar berichtet hat, haben die Schweizer Uhrenlieferungen nach Grossbritannien um 58 Prozent zugenommen. Dies entspricht laut des Verbandes der Schweizerischen Uhrenindustrie vier Fünfteln des weltweiten Wachstums der Branche.
Und auch der Schweizer Schokoladenhersteller Lindt & Sprüngli hat wenig Grund zum Klagen: Er verzeichnete im vergangenen Jahr in Grossbritannien «ein ausgezeichnetes Wachstum von 11,3 Prozent trotz einer prekären politischen Lage», wie die Schweizer Nachrichtenagentur SDA berichtete.
Vielleicht können Schweizer Schokolade und Uhren den Briten in Zeiten des Brexit-Chaos Trost spenden.
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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