«Die Menschen in China sind nicht mehr so optimistisch»
Der ehemalige Nordostasien-Korrespondent von SRF, Martin Aldrovandi, hat die Veränderungen in China der letzten Jahre hautnah miterlebt. Zurück in der Schweiz erzählt er, wie sich die Stimmung in der chinesischen Bevölkerung zunehmend verschlechtert und warum er über die Zukunft des Landes keine Prognose wagt.
swissinfo.ch: Sie haben sechseinhalb Jahre in China gearbeitet. Mit welchen Gefühlen blicken Sie zurück?
Martin Aldrovandi: Mit gemischten Gefühlen. Einerseits vermisse ich meine Freunde und den Alltag in Schanghai. Als Korrespondent hatte ich die Gelegenheit, viele Leute kennenzulernen: Am einen Tag sprach ich mit einem Abgeordneten, am nächsten mit einer Wanderarbeiterin oder einem Bankmanager. Diese Vielfalt der Arbeit hat mir sehr gefallen.
Es ist jedoch immer schwieriger geworden, Leute zu finden, die Auskunft geben. 2016 konnte man zum Beispiel noch viele Akademiker:innen interviewen. Das hat nach und nach abgenommen. Auch Leute auf der Strasse sind misstrauischer geworden gegenüber ausländischen Medien.
Zu Beginn meiner Korrespondentenzeit kam man als Schweizer Radio recht gut an, oder man wurde nicht so ernst genommen: ‹Ach, ein Radio aus der kleinen Schweiz, das ist noch sympathisch, klar machen wir ein Interview!› Heute denken sich die Leute: Man muss aufpassen, das ist ein westliches Medium.
Martin Aldrovandi über den aktuellen Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Tagesgespräch von SRF vom 13.10.2022:
Man muss auch vermehrt darauf schauen, dass man die Leute schützt. Vor allem die gewöhnlichen Leute, die nicht wissen, wie weit sie gehen können. Die meinen es vielleicht gut und sagen nach einer Überschwemmung: ‹Schön, dass ihr hier seid!› Und wollen uns alles zeigen. Aber eine halbe Stunde später kommt die Propagandaabteilung und sagt: ‹Moment, Moment, was habt ihr da gesagt? Das geht nicht!› Man muss schauen, dass man diesen Interviewpartner:innen dann keine Probleme macht.
Martin Aldrovandi wurde 1978 im Kanton Zürich geboren. Er hat in Taipeh/Taiwan, in Hamburg und am MAZ in Luzern Chinesisch gelernt und Kommunikation und Journalismus studiert. Ursprünglich hatte er in der Touristik-Branche gearbeitet, später als Redaktor bei Radio Taiwan International sowie als freier Mitarbeiter für verschiedene deutschsprachige Medien. Ab 2016 war er Korrespondent für das Schweizer Radio und Fernsehen SRF in Nordostasien.
Gab es noch andere Veränderungen in der Zeit, in der Sie in China waren?
In China ändert sich ständig etwas. Plötzlich steht ein neues Hochhaus da oder eine neue U-Bahnstation. In der Schweiz ist es viel statischer.
Und in politischer Hinsicht?
Die Überwachung hat enorm zugenommen. Überall gibt es Kameras, häufig mit Gesichtserkennung. Auch auf den Covid-Apps sieht man, wo sich jemand zu welcher Zeit aufgehalten hat.
Nicht nur das Misstrauen gegenüber ausländischen Medien hat zugenommen, auch die Stimmung im Allgemeinen hat sich verändert. Als ich in den 2000er- und anfangs 2010er-Jahren in China zu Besuch war, herrschte eine positive Grundstimmung. Die Leute gingen davon aus, dass jedes Jahr etwas besser wird. Es kamen zum Beispiel auch immer mehr ausländische Unternehmen nach China.
Nach und nach konnte man sich immer weniger erlauben, es gab weniger Medienfreiheit, mehr Zensur im Internet, der Nationalismus hat stark zugenommen und die Leute sind nicht mehr so optimistisch. Das ist meine Wahrnehmung.
Sie hatten Ihren Wohnsitz in Schanghai. War das ein mittelständisches Milieu mit einem ähnlichen Lebensstil wie in der Schweiz?
Ich wohnte in der ehemaligen französischen Konzession, das Viertel ist sehr zentral. Es gibt kaum Hochhäuser dort, stattdessen viele recht alte Gebäude.
Ich hatte unterschiedliche Nachbarn. Es gab Alteingesessene, deren Grosseltern bereits dort gelebt haben. Es gab Müllmänner, Studierende, Chines:innen aus anderen Provinzen und Expats. Eine gute Durchmischung also.
In der Nähe gab es einen traditionellen Markt, direkt daneben ein Hipster-Café mit teurem Espresso. Auch eine französische Bäckerei konnte man finden. Und während früher noch lebende Hühner verkauft wurden, stand ein paar Meter weiter vor einem Haus ein teurer Mercedes. Es ist ein Ort, an dem alles zusammenkommt. Man darf nicht vergessen, Schanghai ist die grösste und wohlhabendste Stadt Chinas.
Wie ist die Arbeit als Korrespondent in einem Land wie China?
Teilweise sehr schwierig, Tibet etwa konnten wir nicht selbst besuchen, da haben Journalist:innen nur auf einer von der Regierung geführten Reise Zutritt. Nach Xinjiang, wo ethnische Minderheiten wie die Uigur:innen leben, durften wir dagegen hin, wenn nicht gerade Covid-Lockdown war.
Man muss aber kreativ sein, denn die Aufpasser folgen einem auf Schritt und Tritt. Deshalb ist es äusserst schwierig, Interviews zu machen. Man kann es in einem Auto versuchen. Oder ich habe manchmal Sachen aufgeschrieben und den Leuten hingehalten, die dann entweder genickt oder den Kopf geschüttelt haben. Wir haben auch mit Leuten gesprochen, die nicht mehr in China wohnen und somit freier sprechen können.
Wie schafft China das überhaupt? Diese Überwachung ist doch wahnsinnig aufwändig.
Ich habe gehört, dass der finanzielle Aufwand für die flächendeckende Überwachung in Xinjiang enorm hoch ist. Sie wurde im Übrigen auch zurückgefahren, 2018 war auch das Militär noch viel präsenter.
Ich habe damals kurz mit Soldaten sprechen können. Einer, der aus der Provinz Henan stammte, sagte: ‹Ich will gar nicht hier sein, das ist so weit von meinem Wohnort entfernt und die Kultur ist ganz anders.› Auch viele Han-Chinesen sind aus Xinjiang wieder weggezogen, weil die Stimmung dort so repressiv ist.
Wissen die normalen Leute in anderen Regionen Chinas über die Situation in Xinjiang Bescheid?
Jein. Es gibt Leute in Schanghai oder Peking, die wissen, dass in Xinjiang was ist, aber sie denken, dass es nicht so schlimm sei.
Es hat mich schockiert, dass es vielen Leuten egal war, weil es sie nicht direkt betroffen hat. Muslim:innen haben in China generell nicht so einen guten Ruf, zudem ist Xinjiang für viele weit weg von ihrem eigenen Alltag.
Interessant war aber, dass nach dem Lockdown in Schanghai manche Leute gesagt haben, vielleicht stimme es ja doch, was über die sogenannten Umerziehungslager in Xinjiang erzählt werde. Sie trauen der Partei jetzt mehr Strenge zu, weil sie selbst den harten Lockdown erlebt haben.
Wie haben Sie die Corona-Pandemie in China erlebt?
Für viele Menschen war es hart. Wanderarbeiter oder Leute, die ausserhalb wohnen, konnten nicht mehr zur Arbeit in die Stadt. Viele hatten kein Geld oder keine Wohnung mehr. Es wurden sogar Leute entlassen, weil sie positiv getestet wurden. Die individuelle Frustration ist gross.
Das Land zu verlassen ist für viele Chines:innen derzeit schwierig. Man muss gute Gründe haben, um ausreisen zu können. Ich habe die Stimmung als gedrückt wahrgenommen.
Was ist bei Chinas Null-Covid-Strategie eigentlich das Ziel der Regierung?
Interessant ist, dass viele Leute in der Regierung und in den regionalen Behörden die Null-Covid-Strategie nicht unbedingt gut finden.
Die Stadt Schanghai hat es zunächst einfach laufen lassen, trotz hohen Zahlen gab es zunächst keinen Lockdown. Doch dann setzte sich die Führung in Peking offenbar durch, und Shanghai musste in den harten Lockdown. Die Null-Covid-Strategie ist eng mit der Person von Xi Jinping verbunden. Das ist seine Politik, offenbar kann oder will er die noch nicht aufgeben.
Präsident Xi Jinping träumt von einem starken und reichen China. Doch wie sieht es in der Realität aus? Antworten dazu im Studiogespräch mit Martin Aldrovandi, ehemaliger China-Korrespondent SRF in der Sendung 10 vor 10 vom 14.10.2022:
Als Sie im August in die Schweiz zurückgekehrt sind, haben Sie getwittert: «Twitter, Google und Co. einfach so zugänglich. Ohne VPN. Daran werde ich mich gewöhnen.» Was für ein Gefühl war das?
Das ist immer noch komisch. SRF und swissinfo.ch sind in China gesperrt, ich musste also VPN benutzen, um auf unsere eigene Seite zu kommen. Für chinesische Apps und Seiten wiederum musste ich das VPN ausmachen, weil die damit nicht so gut funktionierten. Mit der Zeit gewöhnt man sich aber daran. Jetzt kann ich einfach direkt auf Twitter gehen, ohne vorher etwas zu machen.
Gäste aus China sind die einzigen, die wegen der Corona-Massnahmen noch ausbleiben. Wann werden sie die Schweiz wieder bereisen können?
Viele Chines:innen haben während der Pandemie ihr eigenes Land entdeckt. Statt in Thailand oder der Schweiz machen sie jetzt in China Ferien.
Es gibt alle Klimazonen in China, man braucht keinen Reisepass, muss kein Geld tauschen und kein Visum beantragen. Viele Leute, die früher ins Ausland gingen, haben das jetzt gemerkt.
Ich weiss nicht, ob die Leute nach dem Ende der Massnahmen finden, sie müssten wieder ins Ausland reisen. In China gibt es auch viele Skiresorts, man muss nicht extra in die Schweiz fliegen.
Zurzeit findet in China der 20. Partei-Kongress statt. Wird es grössere Veränderungen oder einschneidende Entscheidungen geben?
Wenn ich etwas gelernt habe, dann keine Prognosen abzugeben. 2013 gab es einen Artikel in der New York Times. Der Autor prophezeite, dass Xi ein Reformer werde. Einige User:innen haben diesen Meinungsartikel später hämisch retweetet. Als Journalist muss man also auch mal zugeben: Man weiss es einfach nicht.
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