Dank 3D-Druck lässt sich die Gaumenspalte günstiger behandeln
Wird in einem einkommensschwachen Land ein Kind mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren, können sich seine Eltern die Behandlungskosten oft nicht leisten. Schweizer Forscher:innen haben eine Methode entwickelt, die Abhilfe verspricht.
Wenn Professor Andreas Müller vom Universitätsspital Basel Smartphone-Bilder eines Neugeborenen mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte von einem Arzt aus Indien erhält, speist er sie in eine spezielle Software auf seinem Computer ein. Diese erstellt daraus automatisch ein digitales Modell des Gaumens. Müller schickt das Modell anschliessend an die Ärzt:innen in Indien zurück, die mit einem 3D-Drucker prächirurgische Gaumenplatten für die kleinen Patient:innen ausdrucken.
In einem Arbeitsablauf, der sonst Wochen dauert, wird mit wenigen Knopfdrücken eine personalisierte Gaumenplatte erstellt. Sie kann bei Neugeborenen mit Gesichtsfehlbildungen eingesetzt werden und verhindert mehrere teure Operationen.
Das digitale Verfahren hat Müller, Leiter des Zentrums für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Gesichtsfehlbildungen an der Universität Basel, zusammen mit Wissenschaftler:innen des Departements Informatik der ETH Zürich entwickelt. Es wird in indischen und polnischen Kliniken getestet und könnte vor allem in Ländern mit geringem Einkommen eine bessere Behandlung ermöglichen.
Lippen- und Gaumenspalten kommen viel häufiger vor, als man denkt: Laut der gemeinnützigen Organisation Smile TrainExterner Link, die Kindern in 87 Ländern chirurgische Korrekturen anbietet, wird weltweit etwa eines von 700 Babys mit einer Lippen- und/oder Gaumenspalte geboren. Damit zählt sie zu den häufigsten Geburtsfehlern.
Die verbreitetste Form ist die Lippenspalte, bei der sich die Oberlippe nicht richtig ausbildet und eine Lücke hinterlässt. Eine Gaumenspalte entsteht, wenn der Gaumen (auch Mundboden genannt) während der fötalen Entwicklung nicht zusammenwächst.
Die Komplikationen einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte gehen über ästhetische Aspekte hinaus. Kinder mit unbehandelten Spalten können lebenslang mit Schwierigkeiten wie Atem-, Saug-, Schluck-, Zahn- und Sprachproblemen zu kämpfen haben.
Laut einer in der Fachzeitschrift JAMA Pediatrics veröffentlichten StudieExterner Link neigen Menschen, die mit einer Gaumenspalte geboren werden, auch zu schwerwiegenden Lernschwierigkeiten, Angststörungen, Autismus-Spektrum-Störungen und sogar zu einem höheren Sterberisiko.
Es besteht kein Zweifel daran, dass chirurgische Eingriffe diese Schwierigkeiten erheblich lindern können. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden bei der Behandlung von Spaltbildungen erhebliche Fortschritte erzielt.
Dennoch müssen sich Kinder, die mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren werden, im Laufe ihrer Kindheit und im frühen Erwachsenenalter immer noch zwischen zwei und vier chirurgischen Eingriffen unterziehen.
Konventionelle Methoden sind teuer
Die Kosten für chirurgische Korrekturen variieren je nach Art der Spaltbildung und der erforderlichen Behandlung. In der Schweiz und in den Vereinigten Staaten kostet eine Operation laut Müller in der Regel 5000 bis 10000 Dollar.
In Indien bezahlt man für ähnliche Eingriffe und Behandlungen zwischen 2300 und 3500 Dollar. Im Vergleich zu den Behandlungskosten in wohlhabenden Ländern erscheint dies auf den ersten Blick relativ erschwinglich, doch für viele Familien in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen liegt dies weit über ihren finanziellen Möglichkeiten.
Obwohl Lippen-Kiefer-Gaumenspalten in allen ethnischen Gruppen vorkommen, sind sie nach Angaben des Nationwide Children’s HospitalExterner Link in den USA häufiger bei Menschen asiatischer Abstammung (etwa 1 von 500 Geburten), gefolgt von Neugeborenen amerikanischer und hispanischer Abstammung.
Einige Ärzt:innen ziehen es vor, den chirurgischen Eingriff zum Schliessen der Lippen-Gaumen-Fehlbildung von mehreren Schritten auf einen zu reduzieren.
Laut Müller ist dies jedoch nur in Zusammenarbeit mit einem multidisziplinären Team zu bewerkstelligen. Ein:e Kinderzahnärzt:in, ein:e Chirurg:in und ein:e Anästhesist:in machen kurz nach der Geburt einen Gaumen-Abdruck des Babys und erstellen einen Gipsabdruck. Ein:e erfahren:e Zahntechniker:in fertigt anhand des Abdrucks eine individuelle Kunststoffplatte an, die dann von eine:r qualifizierten Kieferorthopäd:in in den Mund des Babys implantiert und über mehrere Monate hinweg mehrfach angepasst wird.
Die Platte verschliesst den Gaumen, der zur Nase hin offen ist, und erleichtert dem Baby das Trinken. Nach sechs bis acht Monaten ist die Spalte des Babys so weit verengt und die Position der Zunge so weit korrigiert, dass sie in einer einzigen Operation geschlossen werden kann.
«Nur wenige Teams sind in der Lage, dies zu tun», sagt Müller. «Als Gesundheitsfachkräfte müssen wir frustriert zur Kenntnis nehmen, dass ein solcher ‹Luxus› für viele Familien in den Ländern, in denen es an Ressourcen im Gesundheitswesen, an Ausbildung und an medizinischem Personal mangelt, nicht zugänglich ist.»
Ausserdem sind die Operationen nicht ohne Risiko. Da das Atmungssystem eines Babys noch nicht voll entwickelt ist, riskieren die Ärzt:innen bei der Entnahme von Silikonabdrücken eine Blockierung der Atemwege. Es kommt zwar nur selten vor, aber ein Baby kann daran ersticken.
Vom Foto zum 3D-Druck
Im Jahre 2020 begannen Müller und seine Kolleg:innen am Universitätsspital Basel zusammen mit dem Team der ETH Zürich nach Wegen zu suchen, um Cleft-Operationen einfacher, sicherer und vorhersehbarer zu machen, mit einer möglichst geringen Belastung für die Patient:innen und ihre Familien.
Doch zwischen ihrer Vision und der Finanzierung klafft stets eine unüberwindbare Lücke. «Als klinische Forschende auf dem Gebiet der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten-Fehlbildungen ist es eher selten, dass wir eine grosse Finanzierung erhalten», sagt Müller.
Glücklicherweise erhielt Müllers Team Anfang 2020 eine Finanzierung vom neu gegründeten Botnar Research Centre for Child Health (BRCCH) – einer gemeinsamen Initiative der Universität Basel und der ETH Zürich – um ein digitales Verfahren zur räumlichen Vermessung von Spalten zu entwickeln und den Herstellungsprozess von Modellgaumenplatten zu vereinfachen.
Bei den häufigsten in den Kliniken der Industrieländer angewandten Methoden werden entweder Silikonabdrücke von der Gaumenplatte eines Patient:innen genommen, um einen Gipsabdruck herzustellen, oder Bilder mit einem intraoralen Scanner erfasst, um einen digitalen Abdruck der Mundhöhle zu erstellen.
Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler:innen der ETH Zürich haben jedoch ein kostengünstigeres und schnelleres Verfahren entwickelt.
Die leitende Forscherin Barbara Solenthaler hat sich auf die Simulation digitaler Menschen und bildbasierte Modellierungen spezialisiert. Sie erklärt gegenüber SWI swissinfo.ch, dass Ärzt:innen – egal wo sie sich befinden – in Zukunft nur noch ein Smartphone, einen 3D-Drucker und eine Software mit künstlicher Intelligenz benötigen, um eine massgeschneiderte Platte für ihre Patient:innen herzustellen.
Nachdem sie einige 2D-Bilder oder ein 30-Sekunden-Video der Spalte eine:r Patient:in aufgenommen haben, können die Ärzt:innen die Bilder in die von Solenthaler und ihren Kolleg:innen an der ETH Zürich entwickelte Software einspeisen, um ein digitales Modell einer Gaumenplatte zu erstellen, das sie mit einem 3D-Drucker produzieren können.
Solenthalers Software wurde anhand von 2D-Bildern bestehender Gipsabdrücke und -platten trainiert. Der digitale Arbeitsablauf ist auch für die Patient:innen schonender, da ihre Lippen-Kiefer-Gaumenspalte lediglich fotografiert oder gefilmt werden muss. Früher mussten die Patient:innen betäubt oder geröntgt werden, um einen Abdruck zu nehmen.
>> Video (auf Englisch):
Arbeitsschritte einsparen
Der digitale Arbeitsablauf überwindet geografische Hindernisse. Seit diesem Sommer senden Ärzt:innen aus sechs an der Studie beteiligten Krankenhäusern, darunter das Bhagwan Mahaveer Jain Hospital in Bangalore (Indien), Bilder oder Videos an die Labors in Basel und Zürich. Im Gegenzug erhalten sie ein digitales 3D-Modell einer Platte, das sie vor Ort ausdrucken können.
Dank zeitsparender Methoden wird der digitale Arbeitsablauf theoretisch auf lange Sicht billiger. Der 3D-Druck könnte beispielsweise die Zeit einsparen, welche die Ärzt:innen zur Herstellung des Modells selbst benötigten. Die Prozesse werden automatisiert und es wird nach Vorgaben gedruckt, sagen Yen Hsieh, Assistenzprofessorin am University of Cincinnati College of Medicine, und Mary Roz Timbang vom Children’s Hospital Los Angeles, die zu den führenden Anwender:innen der 3D-Drucktechnologie in der rekonstruktiven Gesichtschirurgie in den USA gehören. Sie untersuchten systematischExterner Link den derzeitigen Einsatz des 3D-Drucks bei der Versorgung von Patient:innen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und veröffentlichten ihre Ergebnisse im Jahr 2021.
Ein im August 2022 veröffentlichtes PaperExterner Link von Müller und seinen Kolleg:innen zeigt, dass dieser digitale Arbeitsablauf die Zeit für manuelle und persönliche Eingriffe durch medizinische Einrichtungen von 135 Minuten auf 60 Minuten reduzieren könnte. «Dies ist jedoch nur möglich, wenn die initiale Lernphase der Ärzt:innen und die Anschaffungskosten für den 3D-Drucker überwunden sind», fügen Hsieh und Timbang hinzu.
Gegenüber SWI swissinfo.ch erklärten sie, dass es in einigen Ländern mit niedrigem Einkommen aufgrund der Regierungspolitik schwierig sei, den Patient:innen diese Geräte zur Verfügung zu stellen.
Eine weitere Herausforderung ist die Einhaltung der Pflegestandards in den medizinischen Zentren, welche die Technologie einsetzen. «Es gibt eine Vielzahl von Druckern, Materialien, Algorithmen und technischen Verfahren. Das kann die Einführung dieser Technologie für Kliniken erschweren, die nicht traditionell in diesem Bereich geschult sind», sagt Timbang.
Dennoch sind sie davon überzeugt, dass der 3D-Druck ein erhebliches Potenzial hat, um den Zugang zu medizinischer Versorgung in Ländern mit niedrigem Einkommen zu verbessern.
Die klinische Studie, an der drei Spitäler in Indien, eines in Polen und zwei in der Schweiz beteiligt sind, wird voraussichtlich bis 2024 laufen. Während dieser Zeit werden Solenthaler und ihre Kolleg:innen die Software weiter trainieren und verbessern, indem sie mehr bestehende Gussformen und Gaumenplatten scannen und vermessen.
Müller freut sich über die ersten Erfolge des Projekts. «Es war sehr motivierend für mich, von unseren Kolleg:innen in den indischen Kliniken zu hören, dass es ihre Operationen erheblich vereinfacht», sagt er. «Ich hoffe, dass unsere neue Behandlungsstrategie vor allem Kindern in einkommensschwachen Ländern zugute kommt, die aus finanziellen Gründen oder wegen mangelnden Ressourcen im Gesundheitswesen oft keinen Zugang zu spezialisierten Behandlungen haben.»
Editiert von Sabrina Weiss, übertragen aus dem Englischen von Michael Heger
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