«Im Pass sollte das Geschlecht einer Person nicht angegeben werden»
Mann oder Frau? Milusch will sich nicht entscheiden und definiert sich als non-binäre Person. Für den/die Zürcher_in, geht der Entscheid Deutschlands, die Tür für ein "drittes Geschlecht" zu öffnen, nicht weit genug: In offiziellen Ausweispapieren sollte es vielmehr gar keinen Hinweis auf das Geschlecht mehr geben. Um sich von den Kategorien zu lösen, veränderte Milusch seinen/ihren Vornamen und sein/ihr Aussehen.
Deutschland vor Anerkennung eines «dritten Geschlechts»
Im November 2017 forderte das oberste deutsche Gericht ein «drittes Geschlecht» für den Eintrag im Geburtenregister. Deutschland würde mit einer solchen neuen Neuregelung das erste Land Europas, in dem die Registrierung eines dritten Geschlechts möglich wäre.
Gemäss dem Entscheid des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber in Deutschland bis Ende 2018 eine Neuregelung schaffen, in die als drittes Geschlecht neben «männlich» und «weiblich» mit «divers» oder «inter» oder eine andere «positive Bezeichnung des Geschlechts» aufgenommen wird.
In einer seit November 2013 geltenden Regelung hatte der deutsche Gesetzgeber für solche Menschen lediglich die Möglichkeit geschaffen, im Geburtenregister gar kein Geschlecht einzutragen.
Australien und Nepal anerkennen in Personalausweisen bereits ein drittes Geschlecht an, das als neutral oder intersexuell bezeichnet wird; eine Geschlechtsidentität für Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau sehen. In Frankreich lehnte das oberste Gericht im Mai 2017 die Einführung eines «neutralen Geschlechts» in Behördendokumenten ab und wies damit einen Antrag einer Person ab, die nach eigenen Angaben «ohne Penis oder Vagina» auf die Welt gekommen war.
(Quelle: sda)
Milusch ist weder eine Frau, noch ein Mann, weder sie noch er. Und sein/ihr Kampf beginnt mit der Sprache: «Ich will nicht als ‹er› und nicht als ’sie› bezeichnet werden.» Um sich dem Wandel anzupassen, wird im Englischen für einen Menschen wie Milusch immer öfter «they» als Personalpronomen verwendet, im Deutschen gibt es Begriffe wie «sier» oder «xier» (keiner dieser Begriffe ist bisher im Duden aufgeführt), während das Französische wie viele andere Sprachen heute noch keine Alternative kennt. Dies ist auch ein Zeichen für das Ausmass des gesellschaftlichen Umbruchs, der mit der Anerkennung eines dritten Geschlechts einhergeht. Eine kleine Revolution, die Deutschland nun als erstes Land Europas umsetzen dürfte (siehe Kasten).
Die/der 28 Jahre alte Milusch könnte ihre/seine Zeit damit verbringen, zu erklären, sie/er wolle nicht als Frau oder Herr angesprochen werden: Sei es in Restaurants, in Geschäften, auf der Post. Es ist eine unmögliche Mission! Ihr/sein Wunsch, dem binären Genderkonzept zu entkommen, nimmt viel Zeit in Anspruch und ist das Resultat eines lang andauernden Reflexionsprozesses.
«Zuerst wurde mir klar, dass ich es nicht gerne hatte, als Frau bezeichnet zu werden. Ich fühlte mich aber auch nie ganz als Mann.» Die Fragen drängten sich laut Milusch noch stärker auf, als einer ihrer/seiner Trans-Freunde sich für eine Geschlechtsangleichung entschied. «Das faszinierte mich, ich verstand aber nicht aus welchem Grund.»
Anfang 2017 machte Milusch sich auf die Suche nach ihrer/seiner Geschlechtsidentität. «Ich besuchte eine auf Genderfragen spezialisierte Therapeutin. Danach versuchte ich, ein paar Änderungen vorzunehmen, um zu sehen, wie sich diese auf meine Gefühle auswirken würden.» So entschied sich der/die Zürcher Chemiker_in unter anderem, seinen/ihren Vornamen anzupassen und sich Milusch zu nennen, was er/sie als neutraler empfindet als der Name, den die Eltern ihm/ihr gegeben hatten.
«Ich will kein Testosteron nehmen»
Ein neuer, kürzerer Haarschnitt zog ein Gefühl von Kohärenz nach sich; das neue Aussehen steht besser in Einklang mit der Art und Weise, wie Milusch sich fühlt. Damit hörte der Prozess der Umwandlung, zumindest vorläufig, auf: «Einige nicht-binäre Personen unternehmen weitere Schritte, zum Beispiel eine Mastektomie, oder entscheiden sich für eine Hormonbehandlung. Persönlich ziehe ich nicht in Betracht, Testosteron zu nehmen, weil ich nicht mit allen möglichen Auswirkungen zufrieden wäre.»
Milusch sitzt in einem trendigen Café im Herzen Zürichs und erklärt mit einer etwas rauen Stimme weiter: «Ich bin leicht krank. Deshalb habe ich eine etwas tiefere Stimme, was ich schätze.» Miluschs Identität entsteht an der Schnittstelle der Männlichkeits- und Weiblichkeits-Codes, eine Art subtile Verschmelzung der Merkmale dieser beiden Geschlechter.
Ein Teil von Miluschs Umfeld hat sich an den neuen Vornamen gewöhnt. Seine/ihre Freunde und Freundinnen hätten es gut verstanden. «Nur eine Person wollte es nicht akzeptieren, und ich habe die Brücken zu ihr abgebrochen. Zudem sind einige Mitglieder meiner Familie noch nicht auf dem Laufenden.»
Vor zwei Jahren hatte Milusch sich bereits als pansexuell* geoutet, eine Ankündigung, die sein/ihr Umfeld gut aufgenommen hatte. Es braucht jedoch mehr Erklärungsarbeit, wenn eine Person weder Mann noch Frau sein will. «Es ist sehr kompliziert, da viele Leute gar nicht wissen, was das bedeutet, während Homosexualität oder Transsexualität bekanntere Themen sind», sagt Milusch.
Sogar in der LGBTIQ-Gemeinde ist das Thema bisher eher marginal. «An der Gay-Pride wird über homosexuelle Männer gesprochen, zudem etwas über Lesben und manchmal auch über Trans*-Personen. So funktioniert unsere patriarchale Gesellschaft, die Männer werden in allen Bereichen stärker wahrgenommen.»
«Es gibt nicht immer ein Wort, um Sachen zu bezeichnen, aber das heisst nicht, dass diese Sachen nicht existieren.»
Neutrale Toiletten wie Daheim
Ob Identitätskarte, Verwaltungsformulare, soziale Netzwerke oder Dating-Portale, überall werden wir aufgefordert, das Feld Frau oder Mann anzukreuzen. «Sogar wenn ich Kleider über das Internet kaufen will, muss ich mein Geschlecht definieren. Das ist mühsam und ich verstehe nicht, weshalb das so wichtig ist», beklagt sich Milusch.
Hat denn Deutschland mit der Öffnung zu einem «dritten Geschlecht» nun einen Schritt in die richtige Richtung getan? «Ja, aber ich finde, dass man sich letztlich von diesen Kategorien distanzieren und in Zukunft das Geschlecht einer Person im Pass überhaupt nicht mehr angeben sollte», erklärt Milusch. «Es ist ein Hinweis, der nichts bringt. Ich finde, dass eine Person besser über die Augenfarbe als durch ihr Geschlecht identifiziert werden kann.»
Die Schwierigkeit, sich von den Geschlechtskategorien zu lösen, wirkt sich auch auf die Suche nach einem Partner oder einer Partnerin aus. Viele Dating-Apps bieten nur zwei Optionen: Mann oder Frau. «So muss ich zum Beispiel auf Tinder meinen Fall in meiner Biografie erklären, und ich habe den Eindruck, dass viele Leute es nicht verstehen.»
Wenn man sich weder als Mann noch als Frau definiert, welche öffentlichen Toiletten benutzt man dann? «Wenn ich allein bin, gehe ich auf Frauentoiletten. Manchmal, wenn ich mit einem Freund unterwegs bin, gehe ich zu den Männern, ich fühle mich dabei aber nicht sehr wohl, weil man oft zuerst an den Pissoiren vorbei muss, die sich beim Eingang der Toilettenräume befinden», erklärt Milusch. Stattdessen sollten überall geschlechterneutrale Toiletten eingerichtet werden. «Das haben wir ja alle schon zu Hause. Es wäre logischer, einfach eine Trennung zwischen Pissoirs und Toilettenkabinen zu haben.»
Milusch ist entschlossen, dazu beizutragen, dass die Sitten sich wandeln werden, vor allem durch ihr/sein Engagement bei den Jungsozialisten und Jungsozialistinnen der Schweiz (JUSO Schweiz). «Es ist wichtig, diese Themen auf das politische Parkett zu bringen. Ich will mich unter anderem für die Ehe für alle einsetzen, ein Recht, von dem auch non-binäre Personen profitieren könnten.» Allerdings scheint es, dass die Anerkennung einer Alternative zu «er» und «sie» noch weit davon entfernt ist, auf der politischen Agenda der Schweiz aufzutauchen.
Und wie soll man ein Anliegen ins Blickfeld rücken, wenn es sogar an den Wörtern fehlt, um das Thema zu beschreiben? «Es gibt nicht immer ein Wort, um Sachen zu bezeichnen, aber das heisst nicht, dass diese Sachen nicht existieren», schliesst Milusch.
*Pansexuell: charakterisiert Menschen, die sexuell oder romantisch potentiell von Menschen aller Geschlechter und Geschlechtsidentitäten angezogen werden.
Mann oder Frau? In der Schweiz muss man sich entschieden
In der Schweiz muss das Geschlecht eines Menschen, männlich oder weiblich, schon kurz nach der Geburt registriert werden. In Zukunft soll eine allfällige Änderung des Eintrags zu einem späteren Zeitpunkt aber einfacher werden.
Heute haben Eltern nur drei Tage Zeit, um das Geschlecht ihrer Neugeborenen auf dem Zivilstandsamt zu melden. Nach Ansicht der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften ist diese Zeitspanne zu kurz. Sie hatte im Dezember 2016 daher gefordert, diese Frist auf 30 Tage zu verlängern.
Der Eintrag auf der Geburtsurkunde kann zwar zu einem späteren Zeitpunkt legal angepasst werden. Das Verfahren ist aber kompliziert. Betroffene müssen sich eine Änderung der Einträge ihrer Vornamen und ihres Geschlechts auf gerichtlichem Weg erkämpfen.
Das Bundesamt für Justiz untersucht zurzeit, wie dieses Verfahren vereinfacht werden könnte. Ein Entwurf soll nächstes Jahr in die Vernehmlassung gehen. Denkbar ist, dass betroffene Personen gegenüber dem Zivilstandsamt in Zukunft einfach eine Erklärung abgeben können, dass der Eintrag ihres Geschlechts und ihres Vornamens geändert werden soll, wie das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) Ende Oktober erklärt hatte.
(Quelle: sda)
Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch