Der «enttäuschende» Beitrag der Schweiz zu einem emissionsfreien Planeten
Die Schweiz will bis 2050 klimaneutral werden. Würden alle Länder diesen Weg und dieses Tempo einschlagen, könnte die Temperatur auf der Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um 4°C steigen.
Mehr als 130 Länder haben sich zum Ziel gesetzt, in den nächsten 30 Jahren Emissionen von netto Null zu erreichen. Das bedeutet, dass sie nicht mehr Treibhausgase erzeugen, als natürliche Ökosysteme oder Technologien zur Bindung von CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen können.
Dieses Ziel wird auf der UN-Klimakonferenz (COP26), die in wenigen Tagen beginnt, noch einmal bekräftigt werden. Es gilt als wesentlich, wenn es darum geht, die globale Erwärmung auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen – also den Schwellenwert, der im Rahmen des Pariser Klimaabkommens international vereinbart wurde.
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Auch die Schweiz hat sich verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu werden. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, die zu den grössten Verursachern von Treibhausgasemissionen gehören, haben dies ebenfalls getan, nicht aber China und Russland, die sich mehr Zeit lassen wollen.
Die Schweiz ist besonders anfällig für den Klimawandel. Die Durchschnittstemperatur ist in den letzten 150 Jahren bereits um fast zwei Grad gestiegen, das ist doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt. Die sichtbarste Auswirkung der Erwärmung ist das Abschmelzen der Gletscher.
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In den Schweizer Alpen ist es heisser denn je
Elektroautos und Wärmepumpen
Die Schweiz hat sich zum Ziel gesetzt, die Emissionen aus den Bereichen Verkehr, Gebäude und Industrie um 90% zu reduzieren. Gegenwärtig ist allein der Strassenverkehr für rund ein Drittel der Emissionen verantwortlich.
Wie auch anderswo in Europa erfordert die Abkehr von fossilen Brennstoffen die Elektrifizierung der Mobilität und der Beheizung von Gebäuden. Im (Ideal-)Szenario der Schweizer Behörden werden im Jahr 2050 3,6 Millionen batteriebetriebene Elektroautos auf den Strassen unterwegs sein, verglichen mit rund 70’000 heute. Es wird 1,5 Millionen Wärmepumpen geben, etwa fünfmal so viele wie heute.
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Der Strom der Zukunft wird fast ausschliesslich aus Wasserkraftwerken – die bereits heute zwei Drittel des in der Schweiz verbrauchten Stroms liefern – und aus anderen erneuerbaren Quellen, insbesondere der Sonne, gewonnen werden. Die Photovoltaikproduktion wird voraussichtlich von 2,5 auf 34 Terawattstunden pro Jahr steigen.
«»Das Versagen der Schweiz ist sehr enttäuschend».
Ryan Wilson, Climate Analytics
Nach Schätzungen der Schweizerischen Bankiervereinigung und der Boston Consulting Group erfordert der Turnaround Investitionen von durchschnittlich rund 13 Milliarden Franken pro Jahr, was sich bis 2050 auf 387,2 Milliarden Franken summiert. Diese Zahl entspricht etwa 2% des BIP.
Emissionen, die nicht reduziert werden können, z.B. aus der Landwirtschaft oder der Abfallbehandlung, werden stattdessen durch Technologien ausgeglichen, die CO2 aus der Atmosphäre entfernen. Die Schweiz ist eine Vorreiterin auf dem Gebiet der sogenannten negativen Emissionen. Im Oktober eröffnete das Schweizer Unternehmen Climeworks in Island die weltweit grösste Anlage, die Kohlendioxid aus der Luft filtert und dauerhaft unterirdisch speichert.
Abgelehnte Massnahmen zur Emissionsminderung
Das wichtigste Instrument der Schweiz zur Emissionsreduktion ist das CO2-Gesetz. Er sieht unter anderem eine Steuer auf Heizöl und Erdgas vor, die zum Heizen verwendet werden, ausserdem eine Verpflichtung zum Ausgleich von Emissionen aus dem Verkehr und die Möglichkeit, einen Teil der Treibhausgasreduktion im Ausland zu realisieren.
Im September 2020 verabschiedete das Parlament eine vollständige Überarbeitung des Gesetzes. Nach der neuen Gesetzgebung hätte die Schweiz ihre Emissionen bis 2030 um 50% (im Vergleich zu 1990) reduzieren müssen, wobei mindestens 37,5% im Inland hätten erreicht werden müssen.
Das revidierte CO2-Gesetz wurde jedoch von der Schweizer Bevölkerung abgelehnt, die sich gegen neue Vorschriften wehrte, unter anderem gegen eine Steuer auf Flugtickets. Die Regierung beabsichtigt nun, die Instrumente des aktuellen Gesetzes, das Ende dieses Jahres ausläuft, zu verlängern. Eine gründlichere Reform ohne neue Steuern soll 2022 vorgelegt werden.
Umweltorganisationen und Klimaaktivist:innen, die nach der Pandemiepause wieder in Städten im ganzen Land demonstrieren, beklagen, die Klimapolitik der Schweiz sei nicht ehrgeizig genug. Aber die Kritik kommt nicht nur von innen.
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Die Schweiz gehört zu den «besorgniserregenden» Ländern
Climate Analytics, eine in Berlin ansässige Nichtregierungs-Organisation, die sich mit Klimawissenschaft und -politik beschäftigt, hält den Beitrag der Schweiz zum Pariser Abkommen für «unzureichend». Würde man dem Schweizer Weg weltweit folgen, würde die Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts um 3-4°C ansteigen, schreibt die Organisation in ihrer Bewertung der Schweiz.
Zusammen mit Australien, Brasilien, Indonesien, Mexiko, Neuseeland, Russland, Singapur und Vietnam ist die Schweiz laut Climate Analytics «ein Land von besonderer Bedeutung». Seit der Verabschiedung des Pariser Abkommens im Jahr 2015 hat keines dieser Länder seine Ambitionen für 2030 erhöht.
Die Schweiz läuft Gefahr, hinter andere wohlhabende europäische Länder zurückzufallen, die nun im Rahmen des 2030-Ziels der Europäischen Union – einer Senkung der Emissionen um 55% gegenüber 1990 – strengere Verpflichtungen haben, wie Climate Analytics feststellt. Um seiner internationalen Verpflichtung nachzukommen, sollte der Bund im Inland eine Emissionsreduktion von mindestens 61% anstreben.
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Das Defizit der Schweiz ist «sehr enttäuschend», kommentiert Ryan Wilson, Analyst bei Climate Analytics, in einer E-Mail an SWI swissinfo.ch, die Situation. «Es ist entscheidend, dass reiche Länder wie die Schweiz dazu gedrängt werden, ihre Ambitionen zu erhöhen, um diese mit dem 1,5°C-Ziel des Pariser Abkommens in Einklang zu bringen, und gleichzeitig viel mehr Mittel bereitzustellen, um den Entwicklungsländern bei der Reduzierung ihrer Emissionen zu helfen.»
Das Vorbild in Afrika
Laut einer Analyse von Climate Action Tracker (CAT) ist Gambia das einzige Land mit einer Klimapolitik, die mit dem 1,5°C-Ziel vereinbar ist. Der Bericht, eine Zusammenarbeit zwischen Climate Analytics und dem New Climate Institute, untersuchte 36 Länder und die EU.
Der kleinste Staat des afrikanischen Kontinents hat Projekte zur Wiederherstellung von Wäldern, Mangroven und Savannen sowie den Bau eines grossen Solarkraftwerks in Angriff genommen. Die gambische Regierung hat erkannt, dass der Übergang zu einem nachhaltigen und erschwinglichen Energiesystem «ein Meilenstein für die sozioökonomische Entwicklung des Landes ist», schreibt CAT.
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