Der Strommarkt der Schweiz – ein UFO mitten in Europa
Die Energiekrise bringt die Strompreise in ganz Europa zum Explodieren, so auch in der Schweiz. Aber das Land ist anders davon betroffen – wegen einigen Eigenheiten im Strommarkt.
Der drastische Anstieg der Strompreise trifft den europäischen Markt mit voller Wucht. Dieser ist seit 2007 vollständig liberalisiert. Die Staaten müssen nun tief in die Tasche greifen, um die Kosten für Haushalte und Unternehmen abzufedern. Bereits gibt es Stimmen, die die komplette Liberalisierung oder die Art, wie die Marktöffnung umgesetzt wurde, in Frage stellen.
Mitten in Europa leidet die Schweiz ebenfalls unter der Energiekrise. Doch der Schweizer Markt ist nur zum Teil liberalisiert.
Wir bündeln hier einige Antworten auf Fragen zum System in der Schweiz:
Wie funktioniert der Schweizer Strommarkt?
Ab den 1990er-Jahren wurden Stromversorger und Netzbetreiber schrittweise privatisiert. In 90% der Fälle sind die Hauptaktionäre aber bis heute öffentliche Körperschaften, etwa Kantone oder Gemeinden. 2009 wurde der Schweizer Markt teilweise liberalisiert: Unternehmen mit einem Verbrauch von mehr als 100’000 kWh pro Jahr können ihren Stromversorger frei wählen. Das sind allerdings bloss 0,8% aller Netznutzer:innen.
Haushalte und kleinere Unternehmen sind sogenannte «gebundene Kunden». Sie sind gezwungen, den Strom von ihrem lokalen Anbieter zu beziehen. Deshalb können sich die Preise von einer Gemeinde zur anderen stark unterscheiden: Im Jahr 2022 zahlten die Einwohner:innen der Stadt Basel 28 Rappen pro Kilowattstunde, während der Preis in der Walliser Gemeinde Simplon 11 Rappen betrug.
Wer sind die wichtigsten Akteure im Schweizer Stromsektor?
In der Schweiz gibt es rund 630 Verteilnetzbetreiber, von denen 70% gar keinen Strom produzieren. Häufig handelt es sich um Gemeinden, die die Versorgung in einem klar begrenzten Gebiet sicherstellen müssen. Eine Handvoll Unternehmen haben sich auf nationaler oder sogar internationaler Ebene weiterentwickelt. Die Schweizer Regierung hat drei systemrelevante Stromversorger ausgemacht, deren Ausfall die Versorgung des gesamten Landes beeinträchtigen könnte. Es sind dies Axpo, Alpiq und BKW.
Swissgrid ist ebenfalls ein wichtiger Akteur auf dem Schweizer Markt, weil das Unternehmen das gesamte Hochspannungsnetz betreibt und den Stromaustausch mit den europäischen Ländern sicherstellt. Swissgrid befindet sich im Besitz der grossen Schweizer Energieunternehmen.
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Wie werden die Strompreise in der Schweiz festgelegt?
Der Stromtarif für gebundene Kunden setzt sich aus dem Energiepreis, den Transportkosten und verschiedenen Steuern und Abgaben zusammen. Die Rechnung variiert von Gemeinde zu Gemeinde, je nach Höhe der lokalen Steuern und je nach Beschaffungsstrategie des örtlichen Stromversorgers. Einige Unternehmen produzieren einen grossen Teil des Stroms selbst, während andere ihn einkaufen. Einige haben bereits mehrere Jahre im Voraus Verträge abgeschlossen, während andere kurzfristig planen. Strategien in den Unwägbarkeiten des Marktes, die sich direkt auf die Rechnung der Verbraucher:innen auswirken.
Das geltende Gesetz garantiert den gebundenen Kunden den Zugang zum Netz, die gewünschte Energiemenge und «faire Tarife». Im Jahr 2021 betrug der Durchschnittspreis in der Schweiz 18,5 Rappen pro Kilowattstunde, während der Durchschnitt der EU-Länder bei 22 Cents lag. Bei den heutigen Wechselkursen war der Strom in der EU also teurer als in der Schweiz.
Obwohl die gebundenen Kunden den Stromanbieter nicht wechseln können, haben die Schweizer Stromunternehmen das Recht, die Preise zu erhöhen. Sofern sich der Preisanstieg begründen lässt. Die 630 Verteilnetzbetreiber müssen ihre Tarife Jahr für Jahr der Eidgenössischen Elektrizitätskommission vorlegen. Diese kann unbegründete Erhöhungen verbieten oder zu hohe Preise auch rückwirkend senken.
Wie wirkt sich der internationale Anstieg der Strompreise auf die Schweiz aus?
Die inländische Stromproduktion, die hauptsächlich aus Wasserkraftwerken besteht, deckt weitgehend den Bedarf während der Sommermonate. Im Winter muss die Schweiz aber etwa 40% ihres Stroms importieren. Die Versorger müssen daher Energie auf dem europäischen Markt kaufen, wo die Preise nun Rekordhöhen erreichen. Folglich werden die Schweizer Konsument:innen im Jahr 2023 eine höhere Rechnung erhalten. Die Eidgenössische Elektrizitätskommission hat eine durchschnittliche Steigerung von 27% errechnet.
Die Situation unterscheidet sich aber je nach Unternehmen. Verteilnetzbetreiber, die einen Grossteil der Elektrizität selbst produzieren, wie die Berner BKW, sind von den internationalen Preisschwankungen kaum betroffen. Im Jahr 2023 müssen BKW-Kund:innen 25,5 Rappen pro Kilowattstunde bezahlen, 2022 sind es 25,2 Rappen. Das Waadtländer Unternehmen Romande Energie hingegen, das nur 40% des Stroms in seinem Netz produziert, wird seine Tarife von 21,2 Rappen im Jahr 2022 auf 32,2 Rappen im Jahr 2023 erhöhen.
Die Energiekrise trifft auch die grossen Stromversorger wie Axpo und Alpiq, die Schwierigkeiten haben, die liquiden Mittel zu finden, um die Garantien für ihre künftigen Verträge zu decken. Axpo bat die Schweizer Regierung deshalb um Unterstützung und erhielt einen Kredit in Höhe von vier Milliarden Franken. Auch Deutschland, Österreich und die skandinavischen Länder haben mehrere Milliarden Dollar bereitgestellt, um ihren Energieunternehmen Liquidität zu verschaffen.
Wie ist die Schweiz in den europäischen Strommarkt integriert?
Aus technischer Sicht ist das Schweizer Stromnetz Teil des europäischen Netzes. Mit seinen 41 grenzüberschreitenden Hochspannungsleitungen gewährleistet das Schweizer Netz die Übertragung von einem Land zum anderen. Die Schweiz ist auf diese Verbindungen angewiesen, um ihre Versorgung zu sichern.
Da die Schweiz aber nicht Mitglied der Europäischen Union ist und ihren Markt noch nicht komplett liberalisiert hat, sind die Beziehungen kompliziert. Als die Schweizer Regierung vergangenes Jahr entschied, die Gespräche über ein Rahmenabkommen mit der EU zu beenden, wurden ebenfalls die bilateralen Energieverhandlungen gestoppt. Bis zu einer Wiederaufnahme des Dialogs hat Swissgrid die Rolle des Verhandlers übernommen und führt mit den europäischen Netzbetreibern technische Verhandlungen.
Warum ist der Schweizer Markt nicht komplett liberalisiert?
Die Schweizer Regierung wollte dem europäischen Trend folgen, wurde aber 2002 vom Volk gestoppt. 52,6% der Stimmberechtigten lehnten damals die Liberalisierung des Schweizer Marktes ab. Hingegen stimmte 2017 eine Mehrheit für ein neues Energiegesetz, das die schrittweise Stilllegung aller Atomkraftwerke in der Schweiz vorsieht.
Unter Eindruck der Entwicklungen auf dem europäischen Markt und wegen dem Willen zum Ausstieg aus der Kernernergie erarbeitete die Schweizer Regierung ein neues Stromversorgungsgesetz. Dieses beinhaltet eine vollständige Liberalisierung des Marktes, sowie ein rascher Umstieg auf erneuerbare Energien. Das Gesetz wird demnächst im Parlament behandelt. Eine Debatte, die aufgrund der jetzigen Situation wohl turbulent wird.
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Übertragung aus dem Französischen: Benjamin von Wyl
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