«Die Bedürfnisse im Land sind so gross – da lohnt sich jede Konferenz»
Als erste Frau wurde Luzia Tschirky mit 28 Jahren zur Osteuropa-Korrespondentin des Schweizer Radio und Fernsehens. Aktuell berichtet sie aus der Ukraine.
Luzia Tschirky wurde 1990 in Sargans (SG) geboren. Sie absolvierte ein Bachelorstudium in Politikwissenschaften an der Universität Zürich.
Seit 2018 berichtet sie für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) aus Russland und den postsowjetischen Ländern.
Die Leserschaft des Fachmagazins «Schweizer Journalist:in» wählte Tschirky zur Newcomerin 2014 und zur Journalistin des Jahres 2021.
swissinfo.ch: Sie haben viele Praktika gemacht und sind danach mit 28 direkt Korrespondentin geworden. Was ist typisch daran für die Medienbranche?
Luzia Tschirky: Ich glaube nicht, dass es typisch ist. Es gab damals wegen des Sparprogramms bei SRF keine Möglichkeit zu einer Festanstellung. Man hat mir deshalb nahegelegt, den trimedialen Stage zu machen.
Während des Stages habe ich mich beworben für die Stelle in Moskau. Ich hatte schon lange das Ziel, Korrespondentin für dieses Gebiet zu werden. Ich würde also sagen, es ist eher untypisch gelaufen.
Sind die goldenen Zeiten für Korrespondent:innen vorbei?
Was waren die goldenen Zeiten?
Als die Medien noch in Korrespondent:innen investierten.
Ich habe nie eine Zeit erlebt, zu denen es keine Kürzungen gab. Seit ich journalistisch tätig bin, kämpfen Medienunternehmen mit finanziellen Problemen. Ich kann nicht mit der Vergangenheit vergleichen, weil ich sie nicht erlebt habe.
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Wie gut sprechen Sie Russisch und andere osteuropäische Sprachen?
Russisch habe ich gelernt, seit ich das Ziel hatte, Osteuropa-Korrespondentin zu werden. Russisch ist in der Region eine Lingua Franca. Hier in Kiew sprechen viele Menschen auch Russisch. Ich kann auf Russisch Interviews führen.
Mein Ukrainisch ist so, dass ich mich ein bisschen unterhalten kann, aber noch im Anfangsstadium. Auf Belarussisch verstehe ich einiges. Sonst spreche ich keine weiteren osteuropäischen Sprachen.
Wie wichtig ist es für Korrespondent:innen, lokale Sprachen zu sprechen?
Es kommt darauf an, wo man sich aufhält. Meine Erfahrung ist, dass es enorm wichtig ist. Gerade wenn es in Interviews um schwierige Themen geht. Es ist ein Vorteil, wenn ich nicht auf einen Übersetzer angewiesen bin.
Wenn ich den Pressedienst des ukrainischen Geheimdienstes wegen meiner Akkreditierung anrief, habe ich mich jeweils auf Englisch vorgestellt und gesagt, dass ich kein Ukrainisch spreche. Da spricht aber niemand Englisch. Dann habe ich gefragt: Sprechen Sie Russisch? Und dann waren die Leute erleichtert. Das muss man sich mal vorstellen: Beim ukrainischen Geheimdienst.
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In Belarus wurden Sie vor anderthalb Jahren festgenommen. Gehört das zum Job dazu?
Ich bin nicht offiziell festgenommen worden. Zivil gekleidete Männer haben mich und meine Freunde aufgefordert, mitzukommen. Diese «zeitweise Festsetzung» stand nicht in direktem Zusammenhang mit meiner journalistischen Tätigkeit. Ich hatte keine Kamera dabei, sondern habe meine belarussischen Freunde getroffen, die ich seit Langem kenne.
Im Auto sassen bereits andere Personen. Wenn es eine gezielte Verhaftung gewesen wäre, hätten nicht bereits andere Personen im Auto gesessen. Ich hatte einfach Pech und war zur falschen Zeit am falschen Ort. Es gehört nicht zum Job, sondern war damals eine Realität für die Leute in Belarus.
Die Weltwoche hat sich über Sie lustig gemacht, weil Sie bei Kriegsausbruch eine Schutzweste trugen, obwohl in der Umgebung nicht geschossen wurde. Wie legt man sich als Journalistin eine dicke Haut zu?
Ich habe diesen Artikel nicht gelesen. Ich weiss, dass er existiert und dass eine Beschwerde eingegangen ist. Aber ich hatte so viel um die Ohren, dass ich gar keine Zeit hatte, mich damit zu befassen. Ich hatte logistische Probleme zu lösen, zum Beispiel eine sichere Unterkunft für den Kameramann zu suchen für die Zeit, in der ich das Land verlasse.
Man braucht schon Widerstandsfähigkeit und Resilienz als Journalistin, aber es gibt Dinge, die für mich persönlich viel schwieriger sind. Zum Beispiel, die Verantwortung gegenüber Mitarbeitenden zu tragen, etwa bei der Frage: Wohin gehen wir drehen?
Die Arbeitsumstände hier sind schwierig. Heute wollte ich eine Brücke überqueren, aber die ukrainische Armee wollte mich nicht durchlassen. Es braucht eine dicke Haut, dass man nicht sogleich umgekehrt, sondern das Gespräch sucht und mit dem Vorgesetzten klärt, welche Sicherheitsbedenken bestehen. Man muss standhaft bleiben und Hartnäckigkeit zeigen.
Was halten Sie von der Ukraine-Konferenz in Lugano, bringt die was?
Die Bedürfnisse im Land für den Wiederaufbau sind so gross – da lohnt sich jede Konferenz. Das Land verfügt nicht über die Ressourcen, den Wiederaufbau zu finanzieren.
Ohne Unterstützung aus dem Ausland wäre auch der Kriegsverlauf ein anderer gewesen. Die Ukraine hätte keine Chance gehabt. Ohne humanitäre Hilfe wüsste ich nicht, wie sich die Menschen über Wasser gehalten hätten.
Insofern finde ich die Konferenz wichtig. Die Umsetzung müssen wir beobachten und als Journalist:innen kritisch begleiten.
Kritiker:innen sagen, andere Länder haben der Schweiz die Show gestohlen, die Ukraine-Konferenz in Lugano ist zu einem «B-Event» verkommen. Hat die Schweiz den Anschluss auf der multilateralen Bühne verloren?
Wenn man schaut, welche europäischen Regierungen in Kiew waren, kann man sich das schon fragen. Vom Schweizerischen Bundesrat war niemand hier.
Wenn Selenski sagt, er würde die Regierungsvertreter:innen auch gerne in seinem Land sehen, hat er den Leuten aus dem Herzen gesprochen. Ein Besuch hier ist was anderes als eine Konferenz im Ausland.
Es war zwar eine parlamentarische Delegation aus der Schweiz in Kiew und das wird von ukrainischer Seite begrüsst, aber es ist was anderes, wenn ein Regierungsmitglied die Ukraine besucht.
Aber der Bundesrat hat so entschieden, es ist ein politischer Entscheid. Man will offenbar nicht Vorreiter sein. Das ist eine eigene Wahl. Es ist politisch gewollt, nicht an erster Stelle zu stehen, man will sich nicht so exponieren. 2014 hatten wir eine ganz andere Ausgangslage, als der damalige Bundesrat Didier Burkhalter den OSZE-Vorsitz innehatte. Davon abgesehen war die Schweiz in den vergangenen Jahren nicht die zentrale Ansprechperson für die Ukraine. In einer Krisensituation wie dieser zeigt sich klarer, wer welche Rolle hat.
Die Schweiz verdoppelt ihre Hilfe für die Ukraine bis Ende 2023 auf 100 Millionen Franken. Laut der «Lugano Declaration» soll die Ukraine beim Wiederaufbau den Lead haben. Ist das angesichts der grassierenden Korruption klug?
Wenn man Kontrollstellen miteinbezieht, macht das grundsätzlich Sinn, man kann den bürokratischen Aufwand kleinhalten.
Unternehmer haben mir heute erzählt, dass es schwierig ist, die Schäden festzustellen und zu beziffern. Solche Entscheide sollten schnell und nah an den betroffenen Personen gefällt werden. Wenn noch schweizerische oder westliche Behörden involviert wären, könnte das noch komplizierter werden.
Korruption war ein riesiges Problem und ist mit dem Krieg sicherlich nicht vom Tisch, die russischen Raketen haben sie nicht zerstört. Kontrolle ist deshalb wichtig, aber wenn die Schweiz oder der Westen selbst aktiv sein und entscheiden wollten, müssten sie vor Ort sein. Und das würde Mehrkosten und Aufwand verursachen, man müsste Unterkünfte organisieren und Personal schicken, was angesichts der Sicherheitslage nicht ganz unkompliziert ist.
Wie wird der Krieg in der Ukraine Ihrer Einschätzung nach enden?
Das weiss niemand. Es hängt von Wladimir Putin ab. Dass der Krieg irgendwann enden wird, steht für mich ausser Frage.
Die Frage ist aber, wie verlustreich der Krieg noch sein wird und was nach dem Ende der Kriegshandlungen passiert. Selbst wenn es ein Friedensabkomme gäbe, wird es lange dauern, bis ein friedliches Zusammenleben innerhalb der international anerkannten Grenzen möglich sein wird.
Der Krieg wird nicht spurlos an den Menschen vorbeigehen, auch nicht an den Menschen auf der Krim oder im Donbass. Die Annäherung wird noch Jahrzehnte dauern. Aber ein Krieg im Ausmass wie jetzt kann nicht über zehn Jahre andauern, es gibt die Ressourcen nicht dafür.
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