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«Die ganze Welt muss Israel und Palästina zum Frieden zwingen»

Menschen fliehen im Gazastreifen von Norden nach Süden mit einer weissen Flagge in der Hand.
Auf der Flucht von Gaza-Stadt in den südlichen Gaza-Streifen: Die weisse Friedensfahne soll verhindern, dass auf die palästinensische Menschengruppe geschossen wird. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved.

Nur 81 Schweizer:innen leben im Westjordanland. Der Schweiz-palästinensische Doppelbürger Rami Daqqa ist einer von ihnen. Der 39-Jährige gibt einen Einblick in ein Leben voller Herausforderungen, die seit dem Kriegsausbruch noch weiter zugenommen haben.

Rami Daqqa ist im Westjordanland geboren und mit 20 Jahren in die Schweiz gekommen. Er hat hier sein Masterstudium absolviert und gearbeitet bevor er Ende 2016 wegen eines Jobs wieder zurück in sein Heimatland gereist ist. Seit 2017 lebt er mit seiner Frau und zwei Kindern in Ramallah, wo er auf einer diplomatischen Vertretung eines europäischen Landes arbeitet.

SWI swissinfo.ch: Rami Daqqa, wie geht es Ihnen?

Portrait des interviewten Rami Daqqa
Rami Daqqa Frank Helmrich Photographie

Rami Daqqa: Es geht. Die Palästinenser hier sagen oft, dass es ihnen gut geht, auch wenn es ihnen nicht wirklich gut geht. Aber sie sind sich gewohnt, schlecht mit schlechter zu vergleichen. Wenn man in Ramallah heute jemanden fragt, ob es gut geht, dann sagen sie: Ja. Weil es uns hier deutlich besser geht als den Menschen im Gazastreifen. Wir können unser Leben hier nicht mit einem ’normalen› Leben vergleichen.

Wie ist die Situation im Moment in Ramallah?

In ganz Westjordanland und hier in der Stadt Ramallah hat sich die Situation seit dem Kriegsausbruch am 7. Oktober sehr verschlechtert. Es war zwar vorher schon nicht einfach hier. Aber normalerweise ist Ramallah eine pulsierende Stadt, jetzt ist sie leer wie Bern an einem Sonntag. Die Leute können sich nicht mehr frei bewegen. Eine Reise in eine andere palästinensische Stadt zu unternehmen, ist ein risikoreiches Unterfangen. Ausserdem sind viele Schulen zu oder sie haben auf Online-Unterricht umgestellt, um zu verhindern, dass die jungen Leute sich bewegen müssen.

Was hat sich seit dem Kriegsausbruch für Sie und im Allgemeinen geändert?

Die israelischen Militäreinsätze in den palästinensischen Städten haben zugenommen, auch die Siedlergewalt. Es ist gefährlich geworden für Palästinenser:innen auf den Strassen im Westjordanland. Als Palästinenser:in ist man dem israelischen Militär und der Siedlergewalt ausgeliefert. Würde man sich wehren oder für seine Rechte einstehen, würde man verhaftet werden. Ich habe das selber schon erlebt. Das Einzige, was uns übrig bleibt, ist die Flucht und zu akzeptieren, dass man nichts ändern kann.

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Mit meiner Familie lebe ich in einem sicheren Stadtviertel. Auch mein Büro liegt in einem eigentlich sicheren Quartier, wo sich die meisten diplomatischen Vertretungen befinden. Normalerweise gibt es dort keine Militäreinsätze. Letzte Woche konnte ich aber nicht ins Büro, weil die Strasse gesperrt war. Es gab Tote. Das ist im Moment keine Ausnahme. Das sehen wir hier täglich, doch der mediale und politische Fokus liegt nicht auf Westjordanland.

Haben Sie schon über eine Rückkehr in die Schweiz nachgedacht?

Ganz ehrlich? Ja. Wir schauen im Moment, wie sich die Situation entwickelt. In Westjordanland kann man keine Pläne machen. Man macht sie zwar trotzdem, weiss aber, dass diese von einem Tag auf den anderen ändern können. Ich habe beispielsweise meinem Sohn versprochen, dass wir dieses Jahr an Weihnachten in die Schweiz fahren. Jetzt weiss ich nicht, ob das möglich sein wird.

Meine Kinder sind fünfeinhalb und eineinhalb Jahre alt. Der Ältere versteht langsam, dass er Schweizer und Palästinenser ist. Wir sind oft in der Schweiz. Und er hat schon begonnen, das Leben hier in Ramallah und in der Schweiz zu vergleichen. Ich möchte meine Kinder nicht im Hass zwischen den Palästinenser:innen und den Israelis aufwachsen lassen.

Hilft Ihnen der Schweizer Pass in der jetzigen Situation besonders?

Nein. Es spielt keine Rolle, ob man als Palästinenser:in zwei Pässe hat. Für die israelische Besatzung ist man Palästinenser:in. Auch als Doppelbürger darf man nur den einen Grenzübergang Richtung Jordanien benutzen, man kann nicht über den israelischen Flughafen reisen. Ich bin eine Ausnahme. Aber nur weil ich für eine diplomatische Vertretung arbeite.

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Wie hat sich Ihre Arbeit auf dieser Vertretung in den vergangenen Wochen verändert?

Im Moment befinden wir uns im Ausnahmezustand. Wir versuchen die Leute im Gazastreifen zu unterstützen und beantworten sehr viele Anfragen von Angehörigen aus dem Ausland, die sich um ihre Leute sorgen. Wir müssen die Situation stündlich neu analysieren und bereiten uns auf eine weitere Eskalation vor. Wir machen uns auf alle Szenarien gefasst. Der Fokus liegt nun auf der Krisenplanung.

Alle meine Mitarbeitenden arbeiten im Homeoffice. Und auch der Botschafter kann nicht mehr so einfach nach Ramallah kommen. Deshalb habe ich den Bereitschaftsdienst übernommen und bin als einziger im Büro.

Welche Medien verfolgen Sie, um über die aktuellen Entwicklungen auf dem Laufenden zu bleiben?

Ich lese viele Schweizer Medien und schaue auch Schweizer Fernsehen, zudem konsumiere ich auch Nachrichten aus den USA und Europa. Im Moment geht hier in Westjordanland mit den Medien alles schief. Die Palästinenser:innen glauben, dass die israelischen Medien befangen sind.

Meiner Meinung nach ist die Berichterstattung 70% auf israelischer Seite und 30% auf palästinensischer Seite. Es gibt einige Medien, die Palästinenser nur als Terroristen zeigen. Das ist ein völlig falsches Bild.

Wie sehen Sie die Hamas?

Die Hamas ist das Ergebnis all der Konflikte in den letzten Jahrzehnten. Ob wir Palästinenser:innen die Hamas als palästinensischen Staat oder als Terrororganisation sehen, ändert nicht viel. Das bringt nichts. Im Gazastreifen ist sie die «Defacto Authority». Sie sind einfach da. Das Volk kann nichts mitbestimmen, sei es im Westjordanland oder im Gazastreifen. Die Hamas hat sich für diesen Angriff am 7. Oktober entschieden, nicht das Volk. Die Frage, ob die Leute den Angriff verurteilen, wird derzeit allen gestellt. Alle Palästinenser:innen wissen, dass so etwas nie richtig ist. Niemand will Krieg.

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Welche politischen Massnahmen sollten die Schweiz und die europäische Gemeinschaft in der momentanen Situation ergreifen?

Stop mit Doppelmoral und politischer Heuchelei: Die ganze Welt muss Israel und die Palästinenser:innen zum Frieden zwingen. Das ist die einzige Lösung. Leider will im Moment auf beiden Seiten niemand Friedensverhandlungen aufnehmen.

Ich bin überzeugt davon, dass beide Völker zusammenleben können. Ob in einem oder in zwei Staaten. Ich sehe, wie Palästinenser:innen und Israelis zusammenarbeiten können. Das geht.

Wir bräuchten einfach nur besser Politiker:innen, die das auch wollen. Mit den Oslo-Verträgen waren nicht alle einverstanden. Aber Jitzchak Rabin und Jassir Arafat hatten den Mut, zusammen zu arbeiten und zu versuchen, es gemeinsam zu schaffen.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin May Elmahdi Lichtsteiner

Wie kommen Sie an verlässliche Informationen über den israelisch-palästinensischen Krieg und andere globale Konflikte?

Und woher wissen Sie, dass die Informationen vertrauenswürdig sind?

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