Wie ein Sieben-Tonnen-Koks-Deal in Sitten geplatzt ist
Die Operation "Brasil Low Cost" ermöglichte Ende Januar die Zerschlagung eines Drogenschmuggler-Rings zwischen Südamerika und Italien. Die Route hätte durch die Schweiz gehen sollen. Die Fäden zog der römische Familienclan Casamonica.
Ein sonniger Sommernachmittag. Zwei Männer steigen aus einem Eurocity-Zug und gehen schnell auf dem Bahnsteig. Sie kommen aus Rom und haben es eilig, ein Bistro unweit des Bahnhofs der Stadt Sitten im Kanton Wallis im Schweizer Alpenraum zu erreichen. Sie setzen sich mit einem Herrn an einen Tisch und fangen ohne Umschweife an, über das Geschäft zu reden: «Wir sind bereit, sowas von bereit! Wir geben 4,5 Millionen Euro aus…»
Die in der Schweiz eingetroffene Delegation spielt ein grosses Spiel. Sie verfügt über direkte Kontakte zu kolumbianischen Drogenhändlern und ist in der Lage, zwischen fünf und sieben Tonnen Kokain pro Jahr über Brasilien nach Europa zu bringen. Sie müssen nur ein Flugzeug an einem sicheren Ort landen lassen – und kein Ort scheint besser geeignet zu sein als der kleine Flughafen von Sitten im Kanton Wallis.
Die Fäden zieht Salvatore Casamonica. Er ist knapp über 40 und der Bruder von «Don» Peppe, genannt Bitalo, den die Ermittler als einen der Anführer des Clans betrachten. Die Casamonica haben tausend Tochtergesellschaften und Vermögenswerte, die auf fast hundert Millionen Euro geschätzt werden.
Die Familie kam Anfang der 1960er-Jahre aus den Regionen Molise und Abruzzen als Pferdeverkäufer nach Rom. Dort bauten sie ein Imperium auf. Sie begannen als bewaffneten Bande von Kriminellen. Dann gingen sie über zu Gaunereien und Wuchergeschäften, zu Geldwäscherei im Immobilien- und Automobilsektor und zum Drogenhandel.
Es war ein unaufhaltsamer Aufstieg, der seinen Höhepunkt im Sommer 2015 mit der triumphalen Beerdigung von Vittorio CasamonicaExterner Link fand. In einer Märchenkutsche, begleitet von einem Hubschrauber und Zurufen als König von Rom wurde er zur Musik des Films «Der Pate» zu Grabe gefahren.
Modernste Kommunikationsmittel
Salvatore Casamonica kann auf ein kolumbianisches Kartell zählen, das exklusiv für ihn arbeitet und die Kontakte zur organisierten Kriminalität in anderen Ländern festigt. An seiner Seite hat er den montenegrinischen Serben Tomislav Pavlovic – einer, der sogar Massimo Carminati, dem Chef der «Mafia Capitale»Externer Link, Angst machte. Es sind Typen, bei denen «der Colt leicht im Halfter sitzt».
Pavlovic, der in sozialen Netzwerken Fotos postet, wie er über São Paulo fliegt, übt auf dem Schiessstand und zeigt stolz, dass er mehrmals mitten ins Schwarze getroffen hat. Dazwischen organisiert er den Transport der heissen Ladung.
Und dann ist da noch ein Albaner, Dorian Petoku, dreissig Jahre alt. Auf Instagram zeigt er Bilder von Geld, Schmuck, zwei halbautomatischen Waffen und Mobiltelefonen, mit denen er abhörsicher telefonieren kann.
Für die Kommunikation stellte Casamonica seinem Team verschlüsselte Blackberry-Telefone zur Verfügung, bestückt mit niederländischen SIM-Karten, die einer seiner slawischen Mitarbeiter besorgt hatte, sowie Smartphones der Marke BQ Aquaris.
«Wir können uns gegenseitig sagen, was wir wollen, denn es ist nicht nachverfolgbar. Man bezahlt 1500 Euro für sechs Monate für Nachrichten, die nach sieben Tagen automatisch gelöscht werden. Ich spreche damit mit der ganzen Welt, man kann nicht arbeiten, wenn man keine solchen Telefone hat», sagt Casamonica gemäss Gesprächsprotokollen der Polizei. «Niemand kann in unser System eindringen, weil es für militärische Zwecke bestimmt ist.»
Es ist eine der neuesten Technologien, welche die organisierte Kriminalität einsetzt: Mit einer Modifikation des Betriebssystem-Kerns können alle anderen in einem verschlüsselten Chat verbundenen Benutzer im Netzwerk erreicht und durch Eingabe eines Pin-Codes auch Nachrichten aus dem Telefon eines anderen Benutzers gelöscht werden.
Casamonica ist ein kluger Mann. Oft lässt er sein «normales» Telefon, das allen und vielleicht sogar seinen «Bewachern» bekannt ist, an einem anderen Ort liegen als dort, wo er sich befindet, um eine andere Lokalisierung zu simulieren. Und tatsächlich bleibt sein Handy, als er in Sitten ist, in einer römischen Funkzelle eingeloggt.
Verdeckter Ermittler
Tausende Tricks, um nicht erwischt zu werden. Dumm nur, dass sich in jenem Bistro in Sitten nicht ein korrupter Flughafenbeamter an den Tisch gesetzt hat, der für einen «ruhigen Transit» sorgen wird, sondern ein Undercover-Agent der Genfer Agentur CRIS (Centrale Romande pour l’Investigation Secrète). Und so geht der gross angelegte Deal schliesslich in Rauch auf.
Die Ermittlungen führen die Schweizer gemeinsam mit der italienischen Guardia di Finanza in Rom, südamerikanischen Polizisten und der Behörde für Drogenbekämpfung des US-Justizministeriums durch. Ende Januar verhaftet die römische Antimafia-Behörde (Direzione Distrettuale Antimafia) Salvatore Casamonica und vier weitere Personen und verhindert so die Einfuhr von 7000 Kilo reinem Kokain nach Europa.
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Die Operation «Brasil Low Cost»
Alles war bereit. Der Deal war abgeschlossen, die Drogen bereits verpackt. Für den Transport hätte Casamonica 20 bis 25% der Ware erhalten, während der Rest, sobald in Italien angekommen, durch die Kolumbianer weiterverkauft worden wäre. Mehr als eine Tonne reines Kokain hätte Casamonica geteilt mit einer Familie aus der ‹Ndrangheta aus dem Latium und einer Camorra-Organisation. Letztere kontrolliert den Drogenhandel im Garibaldi-Bahnhof von Neapel und gehört vermutlich zum Umfeld eines Mazzarella-Clans.
Schliesslich hätte er auch seine Brüder und Cousins am Geschäft teilhaben lassen. Er ist «derjenige, der die Kokainsprache sehr gut sprechen kann, die grossen Kontakte hat, der liefern kann», offenbart ein Mann, der aus einer Familie der ‹Ndrangheta stammt.
Zuerst hatten die Männer geplant, das Flugzeug in Italien landen zu lassen, auf dem Flughafen Roma Ciampino. Das wäre nahe der «Festung» der Casamonicas gewesen, wo diese in Villen mit drei Meter hohen Marmorstatuen, barocken Türen und Toiletten aus reinem Gold und zwischen archäologischer Grabräuber-Beute leben. Der üppige und groteske Kitsch, mit dem sie ihre Häuser ausgestattet haben, wurde zu einem autonomen Stil, der durch den Film und die Serie «Gomorrha» bekannt wurde.
An diesem Flughafen haben die Casamonicas einen reservierten und bevorzugten Ausgang. Doch es gibt niemanden, der ein Flugzeug von Südamerika aus fliegen kann. Casamonica verfügt über gute internationale Verbindungen und kontaktiert zur Lösung des Problems einen französischen Drogenhändler, der zuvor mit einem seiner Mitarbeiter in einem Gefängnis in Marseille eingesessen hatte. Er war verhaftet worden, weil er aus Spanien ein Produkt zur Raffination von Kokainpaste transportiert hatte.
Der Franzose kennt einen brasilianischen Piloten, der in der Schweiz lebt und mit einer Albanerin liiert ist. Dieser Mann könnte für sie den Transportflug übernehmen. Doch er ist nicht erreichbar. Zudem läuft seine Telefonnummer über einen Mazedonier, der einen Nachtklub betreibt und dessen Vater zehn Jahre lang nicht in die Schweiz zurückkehren darf.
In der Zwischenzeit aber will der Franzose sein Leben umkrempeln und entscheidet sich zu einer Zusammenarbeit mit der italienischen Finanzpolizei. Er beginnt seine neue Mission und unterwandert die Organisation. Er folgt Schritt für Schritt den ihm gegebenen Anweisungen und webt ein Netz. Die Falle ist bereit.
Der Franzose bringt einen Piloten mit, Robert Miller. In Wahrheit ist dieser ein Undercover-Agent der US-Drogenvollzugsbehörde DEA. Die beiden beginnen, alle Gespräche aufzunehmen. «Es reicht, dass wir es am Vortag wissen», denn es gebe keine Probleme, die Kontrollen in Ciampino zu umgehen, «es reicht, dass sie mit dem Gepäck aussteigen, wir sind mehr als hundert Prozent, wir können es schaffen», bestätigt Casamonicas rechte Hand gemäss Abhörprotokoll.
Die Drogen stehen in Südamerika bereit. Nun muss nur noch die Reise organisiert werden. Pavlovic beruhigt, er plant den Flug von Brasilien über Santo Domingo, «das wie mein Zuhause ist, es ist sehr einfach». Und er warnt den Piloten, damit dieser weiss, mit wem er es zu tun hat. Wenn er sich einmal verpflichtet habe, gebe es kein Zurück mehr, denn sie seien «sehr gefährliche Menschen».
Ciampino fällt plötzlich aus
Dann geht plötzlich etwas schief, der Deal wird kompliziert. Casamonica kommt zu Ohren: «Über diesen verdammten Ausgang wissen plötzlich mehr Leute Bescheid.» Er beginnt, für seine Geschäfte nicht mehr auf die Sicherheit des Flughafens Ciampino zu vertrauen. Eine Alternative muss her. Der Franzose macht den Vorschlag, unter Anleitung der Guardia di Finanza, er habe eine Person getroffen, welche die Drogen aus der Schweiz holen und nach Mailand bringen könne.
In einem trendigen Café auf der Mailänder Piazza della Scala beginnen die Verhandlungen mit den Schweizern. Sie sollen sofort einen ersten Teil importieren: 600 Kilo, dann 1500 Kilo und mehr. Casamonica erklärt den Schweizern, dass er unterdessen auch ein Flugzeug, eine Gulfstream 5, gefunden hat. Über sein gesichertes Telefon schickt er ihnen Fotos des Flugzeugs und der bereitgestellten Drogenblöcke mit dem Zeichen des Kartells «BB».
An Bord sollen auch zwei unverdächtige Fussballspieler mit gültigen Visa gesetzt werden. Das Kokain soll in Koffern versteckt werden, und der Flug soll einen technischen Zwischenstopp in Miami einlegen. Das Adrenalin ist auf dem Höchststand, der Kanal sieht vielversprechend aus, das Geld wird fliessen. Denn die Grösse der Lieferungen «kann nur zunehmen», sagen sie.
Der montenegrinische Serbe hat bereits Ideen, wie das Geschäft auszubauen wäre. Er ist so überzeugt davon, dass er den Schweizer auffordert, mutig zu sein: «Ich bin Fallschirmspringer, ich mache Extremsport. Vielleicht können wir das nächste Mal sogar nur kurz landen, die Ware rauswerfen und das Flugzeug gleich wieder wegfliegen lassen…?!»
Wären die Drogen erst mal von Sitten nach Mailand geschafft worden, wäre es zu einer Art Stafette gekommen. «Wenn der Kurier nach Rom kommt, wird er ein Auto hinter und eines vor sich haben, die alle Mautschranken auf Polizeipräsenz kontrollieren können. Dann bleibt nur noch die Mautschranke von Rom, wo wir unsere Leute haben», sagt Casamonica.
In der Hauptstadt befehlen sie. Ihre Leute sind wenige Kilometer vom Zentrum entfernt postiert und können von dort aus die Ware in verlassenen und illegal gebauten Gebäuden oder Spielhallen unterbringen.
Geduldet von einer zunehmend resignierten und verängstigten Metropole, sind sie zu einer kriminellen Macht geworden. Nur aus der grossen Schweizer Schmuggelroute sollte schliesslich nichts werden.
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