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«Ein System der Abschottung kann nicht das richtige sein»

Diesen 12,5-km-langen Grenzzaun zwischen Griechenland und der Türkei zu überwinden, ist nahezu unmöglich swissinfo.ch

Die EU konnte sich nicht auf verbindliche Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen einigen, was Alberto Achermann, Migrationsrechts-Professor an der Universität Bern, beschämend findet. Vielleicht sei die gegenwärtige Krise in der Flüchtlingspolitik der Zeitpunkt, alles grundlegend zu überdenken, sagt der Experte im Interview.

swissinfo.ch: Die EU hat sich nicht auf einen fixen Verteilschlüssel, sondern nur auf eine freiwillige Umverteilung der Flüchtlinge geeinigt. Ist das ein kleiner Schritt in die richtige Richtung oder ein Zeugnis mangelnder Solidarität?

Alberto Achermann: Ob es ein kleiner Schritt wird, werden wir erst sehen, wenn sich herausstellt, ob es Angebote für die Übernahme von Flüchtlingen geben wird. Ich sehe das grosse Problem darin, dass Länder, die an sich bereit waren, Leute aufzunehmen, schon heute viel stärker belastet sind als andere. In Österreich etwa wurden letzten Monat über 6000 Asylgesuche eingereicht, im Juni werden es noch mehr sein. Ob solche Länder freiwillig mehr Leute aus Italien und Griechenland aufnehmen werden, wird sich zeigen.

Lastenverteilung

Am EU-Gipfel von vergangener Woche wurde die Verteilung von 40’000 Flüchtlingen von Italien und Griechenland auf andere EU-Staaten vereinbart. Dies erfolgt auf freiwilliger Basis, und nicht wie von der EU-Kommission und Italien gefordert auf Grundlage einer festen Quote.

Die EU-Staats- und Regierungschefs vereinbarten zudem, dass sich alle Staaten an der Umsiedlung von 20’000 anerkannten Flüchtlingen aus Lagern etwa rund um Syrien beteiligen.

Deutschland hat sich stark für den Verteilschlüssel eingesetzt und kann fast nicht anders, als weitere Asylsuchende aufnehmen, obwohl es im Vergleich zur Bevölkerung schon heute eine übermässig hohe Zahl Asylsuchender zählt.

Die Staaten mit den wenigsten Flüchtlingen haben bereits verlauten lassen, dass sie keine verpflichtenden Quoten wollen. Bin gespannt, ob sie freiwillig mitmachen werden.

Die grosse Frage ist, ob diese umverteilten Flüchtlinge dann im Land bleiben werden, oder ob es zu Sekundär-Migration kommt. Werden Personen, die zum Beispiel in die Slowakei verteilt werden, dort bleiben? Oder tauchen sie ab und reisen weiter – nach Schweden, nach England, wo sie schon immer hin wollten?

swissinfo.ch:Das UNO-Flüchtlingshilfswerk spricht von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit, da sind die 60’000, um die es hier geht, ein winziger Tropfen auf einen heissen Stein…

A.A.: Für Griechenland und Italien wäre es etwas mehr als ein Tropfen auf einen heissen Stein. Aber weltweit betrachtet ist das nichts im Vergleich zu Libanon oder zur Türkei, wo Verhältnisse herrschen, die wir uns gar nicht vorstellen können.

swissinfo.ch: Die Schweiz, Mitglied von Schengen und Dublin, hat sich positiv zu einem Verteilschlüssel geäussert. Tut sie das aus Eigennutz, weil sie entlastet würde, oder gibt es andere Gründe?

A.A.: Ich denke schon, dass es in erster Linie um eigennützige Interessen geht, sonst würde sich die Schweiz als nicht Vollmitglied des europäischen Asylraums nicht so aktiv engagieren. Andererseits zeigt die Statistik der letzten 15 bis 20 Jahre, dass die Schweiz bei der Aufnahme- und den Asylgesuchzahlen pro Kopf der Bevölkerung immer in der Spitzengruppe war. Deshalb ist es ziemlich nachvollziehbar, dass die Schweiz zu den aktivsten Promotoren eines solchen Verteilschlüssels gehört.

Aber für eine echte europäische gemeinsame Asylpolitik hat sich die Schweiz noch nie stark gemacht. Dass sie die Asylrichtlinien der EU nicht übernommen hat, zeigt deutlich, dass wir hier nicht voll mitmachen können oder wollen.

Migrationsrechts-Experte Alberto Achermann swissinfo.ch

swissinfo.ch: Aus innenpolitischen Gründen?

A.A.: Es bräuchte gewisse Änderungen des Asylgesetzes. Zum Beispiel eine Verbesserung der Rechtsstellung der vorläufig Aufgenommenen, einen Status, den es im EU-Recht gar nicht gibt. Dort fahren wir eine restriktivere Linie, was zeigt, dass die Schweiz hier nicht so solidarisch ist, wie sie jetzt bei der Verteilung vorgibt, zu sein.

swissinfo.ch: Die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga hat sich für einen «gerechten» Verteilschlüssel ausgesprochen. Welche Kriterien sollen denn zur Anwendung kommen?

A.A.: Ich finde die von der EU-Kommission entwickelten Kriterien gar nicht schlecht. Es geht um die Anzahl Asylsuchende, um Bevölkerungszahl, Arbeitslosenquote, Bruttoinlandprodukt und um bereits ansässige Flüchtlinge. Diese Kriterien sind per se nicht umstritten. Umstritten ist das Prinzip der Verpflichtung zur Aufnahme einer Quote überhaupt.

swissinfo.ch: Länder an der Schengen-Aussengrenze, wie Griechenland, Italien oder Ungarn, sind vom anhaltenden Migrationsdruck besonders betroffen. Gemäss Dublin ist ja jenes Land für Asylanträge zuständig, in dem Flüchtlinge erstmals europäischen Boden betreten. Muss das Abkommen revidiert werden?

A.A.: Seit Dublin 1990 vereinbart wurde, gibt die unfaire Lastenverteilung zu reden. In den ersten Jahren hat sich das nicht so akzentuiert, weil es in den südlichen Staaten wenig Asylgesuche gab, die Personen einfach weitergezogen, was bei den damaligen Zahlen nicht weiter problematisch war.

Seit aber die Gesuchzahlen stark angestiegen sind, zeigt sich die Problematik in vollem Umfang. Wenn es zu einem Verteilschlüssel kommt, dann braucht es ohnehin eine Revision von Dublin. Das wäre dann der Zeitpunkt, diesen Mechanismus zu ändern. Festzulegen, wo das Asylgesuch geprüft werden soll, ob an der Aussengrenze oder in jenem Staat, wo das Asylgesuch gestellt wird – wird nicht einfach sein.

An sich geht man davon aus, dass die Staaten an der Schengen-Aussengrenze selber schuld sind, wenn Asylsuchende ins Land kommen. Das soll ein Anreiz sein für diese Länder, ihre Grenzen besser zu bewachen. Das ist die Logik hinter diesem System.

Es könnte also durchaus sein, dass man beim Kriterium Aussengrenze bleibt, aber eben mit einem Verteilschlüssel, damit Länder mit besonders vielen Asylsuchenden diese weitergeben können.

swissinfo.ch: Realität ist, dass mehrere Länder die Schengen- und Dublin-Abkommen unterlaufen, indem sie vorübergehend Grenzen schliessen, Grenzkontrollen durchführen oder die Flüchtlinge mangelhaft registrieren. Ist die EU-Flüchtlingspolitik gescheitert?

A.A.: Sie ist sicher angeschlagen. In den 1970er- und 1980-er Jahren konnte sich ein Flüchtling mehr oder weniger aussuchen, wo er das Gesuch stellen wollte. Er konnte dorthin gehen, wo Familienangehörige lebten und er die Sprache kannte. Mit Dublin ist dies Geschichte geworden. Ich glaube nicht, dass es möglich sein wird, zum alten Zustand zurückzukehren. Was es nun braucht, ist ein Ersatz für dieses System – ein Prozess, der Jahrzehnte dauern wird.

Die Schweiz im Vergleich

2014 stellten gemäss dem UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 22’000 Personen in der Schweiz ein Asylgesuch. Das macht 2,7 Asylgesuche pro 1000 Einwohner. Eine höhere Quote wiesen in Europa nur Schweden (7,8), Ungarn (4,2), Österreich (3,3) und Malta (3,0) auf. Der Durchschnitt lag bei 1,1 Asylgesuchen pro 1000 Einwohner. 

Heute sind die Chancen für die Asylsuchenden in Europa äusserst ungleich verteilt. In einem Staat beträgt die Anerkennungsquote 1%, in einem anderen 40-50%. Man nennt das «Asyllotterie». Auf der anderen Seite sind auch die Bedingungen in den Aufnahmezentren extrem unterschiedlich. Das geht von einigermassen anständigen Unterkünften bis zum Schlafen im Freien oder zu geschlossenen Lagern, wie das teils in Ungarn oder Griechenland der Fall ist.

swissinfo.ch: Was müssen die EU-Staaten also tun?

Wenn man eine gerechtere Verteilung und ein besseres System will, dann müssen sich die Staaten gemeinsam anstrengen, damit sie zu einigermassen vergleichbaren Aufnahmebedingungen kommen. Es wird lange dauern, bis man zu akzeptablen Verhältnissen kommen wird. Wäre man einmal so weit, so würde es keine grosse Rolle mehr spielen, in welchem Land eine Person das Asylverfahren durchläuft.

Wie in der Schweiz, wo wir schon heute einen Verteilschlüssel kennen: Asylsuchende werden auf die Kantone verteilt. Ob sie das Asylverfahren in Glarus oder Genf durchlaufen, spielt keine Rolle, die Chancen sind die gleichen. Wenn sie akzeptiert werden, können sie sich auch in einem anderen Kanton niederlassen.

swissinfo.ch: Der EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik fehlt es zurzeit an einer klaren Strategie und an Visionen. Spielt sie damit gar den Schlepperbanden in die Hand?

Europa befindet sich zurzeit in einer «Aufrüstungsspirale»

A.A.: Solange Migranten nicht legal einreisen können, wird diese Art von Flucht und Verlust von Menschenleben kein Ende haben. Wahrscheinlich ist es zu einfach, nur auf die Schlepperbanden einzudreschen. Die Menschen finden immer Wege, nach Europa zu kommen. Wie die letzten 20 Jahren zeigen, haben die Routen ständig geändert, aber zurückgegangen sind die Zahlen nicht, im Gegenteil.

Eine gewisse Mitverantwortung am Elend der Flüchtlinge lässt sich nicht wegdiskutieren. Vielleicht ist diese Krise der Zeitpunkt, alles grundlegend zu überdenken. Europa befindet sich zurzeit in einer «Aufrüstungsspirale». Statt in millionenschwere Grenzsicherung mit Infrarotkameras und Hunden sollte man in die Bildung vor Ort investieren. Denn das heutige System der Abschottung kann nicht das richtige sein.

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