Einbürgerung: Die rigide Schweiz verpasst Chancen
Die Schweiz vergibt ihr Bürgerrecht sehr restriktiv. Erst gerade scheiterte ein neuer Anlauf, dies zu ändern. Dabei stehen alle Zeichen auf Inklusion. Das Land droht den Anschluss an die Gegenwart zu verlieren.
Der Ständerat liess sich nicht umstimmen. Er sagte jüngst Nein zu einer Motion, die verlangte, dass Ausländer:innen automatisch eingebürgert werden, wenn sie in der Schweiz geboren wurden. Damit hätten sie auch das volle Stimm- und Wahlrecht erhalten. 29 Kantonsvertreter:innen waren dagegen, 13 dafür. Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter lehnte die Forderung im Namen der Landesregierung ab.
Das alte Prinzip der Blutlinie
Letztlich standen sich zwei Prinzipien gegenüber: Da ist einerseits das «ius sanguinis», zu Deutsch das Blutrecht oder Abstammungsprinzip. Demnach bestimmt die Nationalität der Eltern – oder auch nur eines Elternteils – die Nationalität der Kinder.
Dort ist andererseits das «ius soli», auch Bodenrecht oder Geburtsortsprinzip genannt. Demnach erhalten Kinder die Staatsbürgerschaft aufgrund des Ortes, wo sie auf die Welt kommen.
Historisch dominierte meist das Abstammungsprinzip. Denn die Staatsbürgerschaft wurde über den Vater vererbt. Mit der Gleichstellung der Geschlechter kam man davon teilweise ab.
Parallel dazu stieg die Bedeutung des Geburtsortsprinzips. In Nord- und Südamerika gilt das «ius soli» fast flächendeckend. Namentlich Einwanderungsgesellschaften haben damit gute Integrationserfahrungen gemacht.
Ganz abgeschafft wurde das «ius sanguinis» auch in Indien. In zahlreichen anderen Staaten gilt heute eine Mischung aus beiden Prinzipien.
Wenig Rechte für Ausländer:innen
Die Historiker:innen Brigitte Studer, Gerald Arlettaz und Regula Argast schreiben in ihrer umfassenden Geschichte des Schweizer Bürgerrechts: Unser Land folgt dem Abstammungsprinzip und kombiniert in enger Art und Weise die Nationalität, die Bürger- und die politischen Rechte.
Nur in der französischsprachigen Schweiz hat sich die Idee erhalten, wonach jede Staatsebene die politischen Rechte selber definiert. So haben Ausländer:innen in den Kantonen Genf, Waadt, Neuenburg, Jura und Freiburg bis heute ein fixes Stimm- und Wahlrecht in kommunalen Angelegenheiten.
Das kennt man in der deutschsprachigen Schweiz nicht. Einzig in Graubünden, Appenzell Ausserrhoden und Basel-Stadt können die Gemeinden ein Ausländerstimmrecht auf freiwilliger Basis einführen.
Es ging um Holz und Almosen
Das Historiker:innen-Team leitet das Abstammungsprinzip aus der Vorgeschichte des Schweizer Bundesstaats ab. Bis zum Ende das 18. Jahrhunderts war die räumliche Mobilität selbst zwischen den Kantonen gering. Wer einen ortsansässigen Stammbaum hatte, konnte von Gemeindegütern wie Holz profitieren und wurde bei Armengenössigkeit von der Heimatgemeinde aufgenommen.
Der junge Bundesstaat – gegründet 1848 – rüttelte daran nicht. Er integrierte vor allem die kantonale Rechtsprechung. Eine wichtige Entscheidung fällte er jedoch, denn die doppelte Staatsbürgerschaft wurde ausgeschlossen. Damit wollten die Staatsväter verhindern, dass Schweizer den Militärdienst wahlweise in der Schweiz oder einem anderen Land leisten konnten. Denn Pflichten als Schweizer und Rechte als Bürger gehörten im 19. Jahrhundert eng zusammen.
Folgenreich waren später die Veränderungen im Verständnis von Nationalität während des 20. Jahrhunderts, als Einwanderer aus dem südlichen Europa in die Schweiz kamen. «Assimilation» wurde zum Schlagwort. Gemeint war damit, man könne nur dann ein guter Schweizer sein oder werden, wenn man gut angepasst lebe. Es war eine Reaktion auf die wachsende Zahl an Ausländer:innen, die mit der Industrialisierung einwanderten.
Nochmals verengt wurden das schweizerische Selbstverständnis mit dem Zweiten Weltkrieg. Von der Staatsbürgerschaft generell ausgeschlossen wurden Mittellose, Flüchtlinge und Juden.
Zudem verschärfte man noch im Vollmachtsregime, also in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg, die Heiratsregeln. Schweizerinnen, die einen Ausländer heirateten, verloren ihre Staatsbürgerschaft. Und sogenannte Scheinehen von Ausländer:innen mit einem Schweizer konnten aufgelöst werden.
Mit dem Bürgerrechtsgesetz von 1952 baute die Schweiz dann zwar einige Diskriminierungen von Frauen ab, verfolgte aber die ausschliessende Politik bei der Staatsbürgerschaft weiter. So wurden die Tauglichkeitskriterien für die Einbürgerung nochmals verschärft, die Wohnsitzfrist weiter verlängert und die Eignungsprüfung im Gesetz festgeschrieben.
Der Bruch mit der Tradition
Wie überkommen das Verständnis von Nationalität und politischen Rechten geworden war, merkte die Schweizer Öffentlichkeit erst 1978, als der erfolgreiche Kinofilm «Die Schweizermacher» von Rolf Lyssy mit Emil Steinberger in der Hauptrolle das inquisitorische Verhalten der Polizei bei Einbürgerungswilligen humoristisch auf die Schippe nahm.
Ganz durchbrochen wurden die Einheit von «Soldat und Bürger» aus dem 19. Jahrhundert der Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Zwar lag eine Forderung nach einer obligatorischen Frauendienstpflicht vor, doch umgesetzt wurde diese nicht. So bekamen die Frauen die politischen Rechte dank den Menschenrechten auch ohne Armeedienst zu leisten. 1992 bekräftigte man dies, indem die Frauen beim Bürger:innenrecht den Männer vollständig gleichgestellt wurden.
Von der Exklusion zur Inklusion
Wir können das 20. Jahrhundert mit Blick auf die Schweiz also als langanhaltenden Trend zur Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen begreifen. Gemeint ist damit der bewusste Ausschluss von Personen aus der Gesellschaft. Das hatte eine Folge: Die Möglichkeit, politisch mitbestimmen zu können, wurde erschwert, und zwar für eine steigende Zahl von Menschen.
Dem steht die Inklusion gegenüber, der ebenso bewusste Einbezug neuer Gesellschaftsmitglieder. Inklusion verkörpert das Gegenteil des Wegs, den die Schweiz eingeschlagen hat. Aber genau sie gilt als grosse Herausforderung und Chance in der globalisierten Umwelt von Nationen.
Neuer Leitbegriff des 21. Jahrhunderts ist denn auch die Diversität. Gefragt ist Vielfalt, denn diese erweitert die Kompetenzen einer modernen Gesellschaft. Die international tätige Wirtschaft hat das längst begriffen. Sie eröffnet kompetenten Zuwanderer:innen den Aufstieg bis in ihre Unternehmensspitzen und oberste Gehaltsklassen.
Doch die institutionelle Politik zögert. Denn es regt sich Widerstand in den konservativen Bevölkerungskreisen und bei den Parteien, die dem klassischen Bürger:innenleitbild anhängen.
Einbürgern, dann klappt auch Integration
Nägel mit Köpfen macht nun die Aktion «Vierviertel». Sie fordert nicht weniger als den mutigen Entwurf einer neuen Gesellschaft: Wer hier lebt, solle ein Grundrecht auf Einbürgerung erhalten. Dafür ist die Bewegung bereit, eine Volksinitiative zu starten.
Dabei stützen sich die Initianten unter anderem auf eine politikwissenschaftliche Studie der Universität Luzern, die 2016 publiziert wurde. Sie bestimmte im internationalen Vergleich den «Immigration Inclusion Index». Dabei landete die Schweiz auf dem zweitletzten Platz von über 20 untersuchten Ländern. Die Nachbarn Frankreich und Italien sind demnach deutlich inklusiver, aber auch Deutschland und Österreich rangieren vor der Schweiz.
Besonders auffällig ist, dass durch die lang anhaltende, exklusive Einbürgerungspraxis der Anteil der Einwohner:innen mit politischen Rechten gesamtschweizerisch am Sinken ist. In Kantonen wie Genf und Baselstadt nähert er sich bald der 50 Prozent Marke.
Eine weitere Studie, erstellt an der ETH Zürich, liefert weitere Argumente. Sozialforscher Dominik Hangartner konnte in einem Experiment zeigen, dass Personen, die vor 10 Jahren eingebürgert wurden, heute deutlich stärker integriert sind als jene, denen die Einbürgerung damals verwehrt wurde.
Das kehrt einen festen Glaubenssatz der Gegner:innen einer neuen Gesellschaft der Bürger:innen um. Denn Integration ist keine Voraussetzung der Einbürgerung, vielmehr ist sie eine Folge davon.
Die Schweizer Demokratie lebte und lebt wie kaum eine andere von der Partizipation ihrer Mitglieder. Wenn das «ius soli» irgendwann das «ius sanguinis» ergänzt, wäre es für diese nur ein Gewinn.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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