«Es ist für mich als junge Frau nicht immer leicht, respektiert zu werden»
Mit nur 26 Jahren übernahm Annabelle Hutter die Leitung des Schweizer Textilunternehmens Säntis Textiles AG. Für die Jungunternehmerin noch nicht genug: Sie schuf parallel dazu ihre eigene Marke für Recycling-Mode.
Stefan Hutter aus St. Gallen stammt aus einer Familie, die sich mit Textilmaschinen beschäftigt. In den 1990er-Jahren ist er in Asien als kaufmännischer Leiter für Rieter tätig, einem führenden Schweizer Textilmaschinenhersteller.
Der Auslandschweizer heiratet eine thailändisch-schwedische Frau und wittert alsbald eine grosse Geschäftsmöglichkeit: Er will als eine Art «Business Developer» zwischen asiatischen Textilanbietern und europäischen Industriekunden vermitteln.
Zu diesem Zweck wählt Hutter nicht nur die richtigen Lieferanten aus, sondern garantiert auch die Qualität der Produktion, selbst wenn er dafür Herstellungsverfahren ändern oder Maschinen anpassen muss. Auf diese Weise wird 2005 in Singapur die Firma Säntis Textiles gegründet.
Heute beschäftigt die Gruppe rund 100 Mitarbeitende in einem Dutzend Ländern. Im Oktober 2022 hat Hutter beschlossen, die Generaldirektion seines Schweizer Unternehmens an seine Tochter Annabelle zu übergeben. Wir treffen die neue Chefin in Zürich.
swissinfo.ch: Sie haben ihre Kindheit in Asien verbracht. Betrachten Sie sich nach so vielen Jahren im Ausland noch als Schweizerin?
Annabelle Hutter: Ich bin mit meinen Eltern in Taiwan, Malaysia, Singapur, China und Thailand aufgewachsen und habe hauptsächlich in Edinburgh und Paris studiert. Meine Sommer verbrachte ich jedoch in Roggwil im Kanton Thurgau.
Seit etwas mehr als einem Jahr wohne ich nun in Zürich. Ich liebe die Schweiz und fühle mich sehr schweizerisch. Ich mag die bedächtige Langsamkeit der Schweizerinnen und Schweizer sehr. Sie unterscheidet sich so sehr von der Hast, wie sie in Südostasien üblich ist.
Ich schätze auch die Bescheidenheit der Menschen hier und ihre Fähigkeit, hart zu arbeiten und gleichzeitig ein Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben zu wahren.
Im vergangenen Jahr übergab Ihnen Ihr Vater die Leitung der Säntis Textiles AG. Sie waren damals erst 26 Jahre alt. Vor welchen Herausforderungen stehen Sie?
Mein Vater ist weiterhin Vorsitzender des Verwaltungsrats. Er interessiert sich sehr für die technischen Aspekte, speziell für Textilmaschinen und die Produktion. Er hat auch enge Beziehungen zu unseren Industriekunden aufgebaut, zum Beispiel zu den Automobilherstellern.
Was mich betrifft, so habe ich mich viel mit der Betreuung neuer Kundschaft beschäftigt, in diesem Fall Modemarken wie Tommy Hilfiger, Patagonia oder Lacoste.
Dabei stützte ich mich auf meine ersten Berufserfahrungen, die ich vor meinem Eintritt in das Familienunternehmen gesammelt hatte. Ich hatte vier Jahre lang beim PR-Spezialisten Publicis gearbeitet und anschliessend bei PVH, der Muttergesellschaft von Tommy Hilfiger. Mit anderen Worten: Intern ergänzen mein Vater und ich uns sehr gut.
Extern muss ich Ihnen gestehen, dass es für mich als junge Frau nicht immer leicht ist, respektiert zu werden. Vor allem wegen des Patriarchats, wie es in Ländern wie der Türkei typisch ist.
Aber ist die Textilindustrie nicht dafür bekannt, dass sie viele weibliche Führungskräfte anzieht?
Das trifft vielleicht auf die Modewelt zu, aber nicht auf die Textilproduktion.
Der Schweizer Hauptsitz von Säntis Textiles befindet sich in Bühler im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Mein Vater kommt aus St. Gallen, nicht weit von Bühler und dem Säntis entfernt, einem Gipfel in den Appenzeller Voralpen. Es ist also ganz natürlich, dass wir unsere Firma im Kanton Appenzell Ausserrhoden registriert haben, wo wir allerdings nur ein kleines Büro haben. In Zürich wollen wir weiter wachsen.
2019 hat Säntis Textiles eine eigene Produktionslinie in der Türkei aufgebaut. Was ist die Idee hinter dieser Entwicklung, die von Ihrem traditionellen Geschäft abweicht?
2016 hatte mein Vater die Idee, die weltweit ersten Maschinen zu bauen, die Garne und Stoffe aus rezyklierter Baumwolle herstellen können. Diese Maschinen wurden in St. Gallen entwickelt und werden hauptsächlich in der Türkei hergestellt.
In diesem Land befindet sich auch unsere kleine Fabrik, die bereits Stoffe an Marken wie Tommy Hilfiger, Lacoste und Patagonia liefert. Wir verfügen nun schon über die zweite Generation der Maschinen und werden im Lauf dieses Jahres mit dem Verkauf beginnen.
«Säntis Textiles hat die weltweit ersten Maschinen entwickelt, die Garne und Stoffe aus rezyklierter Baumwolle herstellen können.»
Wenn Sie diese Maschinen verkaufen, besteht dann nicht die Gefahr, dass Sie Ihre türkische Produktion konkurrenzieren?
Es war nie unser Ziel, Fabriken auf der ganzen Welt zu besitzen und zu betreiben. Hauptzweck unserer Produktion in der Türkei ist es, die Entwicklung unserer Maschinen zu ermöglichen.
Haben Sie keine Angst, dass andere Ihre Maschinen kopieren könnten?
Um zu verhindern, dass unsere Maschinen kopiert werden, gehen wir wie viele andere Schweizer Unternehmen vor: Einige Schlüsselkomponenten werden ausschliesslich in der Schweiz hergestellt, und unser Schlüssel-Knowhow wird wie die Formel von Coca-Cola durch Geschäftsgeheimnisse geschützt und nie in unseren Patenten offengelegt.
Die Schweizer Textilindustrie ist weltweit bekannt. Wie beurteilen Sie deren Entwicklung?
In den letzten Jahrzehnten hat sie einen Teil ihrer Aura verloren, da viele Spinnereien und Webereien in den Osten verlagert wurden. Dennoch ist die Schweiz dabei, ihre Führungsposition durch Innovation und Qualität zurückzugewinnen.
Zudem ist Swiss Textiles, der Dachverband unserer Branche, ausserordentlich dynamisch und in der Lage, Synergien zwischen seinen Mitgliedern zu erzeugen. Und die Schweizerische Textilfachschule bietet qualitativ hochwertige Ausbildungen an – ich habe dort einen Kurs zum Thema Nachhaltigkeit besucht.
In Thailand haben Sie Ihre eigene nachhaltige Marke Born on Saturday lanciert. Gibt es Synergien?
Rechtlich gesehen ist meine Firma Born on Saturday vollständig von Säntis Textiles getrennt. Die türkische Fabrik von Säntis Textiles ist jedoch eine Lieferantin von Born on Saturday.
Mein Ziel mit meiner eigenen Firma ist es, dazu beizutragen, in Thailand das negative Image von rezyklierter Kleidung zu ändern. In einer späteren Phase plane ich eine Expansion dieser Marke in die Schweiz.
Die Textilindustrie ist eine der grössten Verschmutzungsquellen unseres Planeten und verursacht allein zehn Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen. Ist «Slow Fashion» oder langsame Mode nicht die beste Lösung für dieses Problem?
Die Menschen haben langsam genug von der Fülle an Nachhaltigkeitsbotschaften, vor allem, weil Greenwashing allgegenwärtig ist. Ausserdem glaube ich nicht, dass «Slow Fashion» der einzige Weg ist, denn die Kundschaft wird immer viele Kleidungsstücke kaufen wollen.
Meiner Meinung nach wird die nachhaltigste Lösung darin bestehen, nachhaltig zu produzieren, vor allem aus rezyklierten Materialien. Und das so, dass die Konsumentinnen und Konsumenten die Wiederverwertung gar nicht bemerken.
Was halten Sie von den neuen Marken für superschnelle Mode, wie etwa Shein aus China?
Das ist ein schreckliches Phänomen. Shein ist zweifellos ein weltweiter Erfolg, vor allem bei einer jungen Zielgruppe, die von den günstigen Preisen und dem grossen, ständig wechselnden Angebot begeistert ist.
Ich bin mir jedoch sicher, dass dieser Erfolg nur von kurzer Dauer ist, da die Kundinnen und Kunden irgendwann genug von den negativen Auswirkungen der «Fast Fashion» auf die Umwelt und die Gesellschaft haben werden.
Vielleicht brauchen wir kurzlebige Unternehmen wie Shein, um der Gesellschaft die negativen Aspekte der ultraschnellen Mode vor Augen zu führen.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger
Mit recycleten Stoffen will sie die Modewelt verändern
>>> SRF-Beitrag über Annabelle Hutter:
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch