«Niemand migriert wegen grosszügigeren Sozialversicherungen»
Die Schweiz sträubt sich gegen die Unionsbürgerrichtlinie aus Angst vor "Sozialhilfetourismus". Laut der Forscherin Angie Gago ist diese Angst unbegründet. Die Probleme lägen anderswo.
Die Schweiz hat die Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen mit der EU im Mai 2021 abgebrochen. Die Politologin Angie Gago hat untersucht, warum nebst staatlichen Beihilfen und Lohnschutz auch die Unionsbürgerrichtlinie zum Stolperstein wurde – obwohl sie gar nicht Teil des Abkommens war. Wir haben sie gefragt, wo die Probleme liegen.
Die spanische Politologin Angie GagoExterner Link forscht am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Migration und Mobilität der Universität Neuenburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört unter anderem der Vergleich europäischer Wohlfahrtssysteme. Sie untersucht die Auswirkungen der Europäischen Union auf die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedsländer. Ebenfalls zu ihrem Forschungsgebiet gehört die Frage, warum die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über das institutionelle Rahmenabkommen gescheitert sind
SWI swissinfo.ch: Warum wurde die Unionsbürgerrichtlinie zum zentralen Streitpunkt zwischen der Schweiz und der EU?
Angie Gago: Am Anfang der Verhandlungen wollte die EU, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie übernimmt. Zwar ist sie später davon abgerückt: Im Entwurf des Rahmenabkommens von 2018 war die Unionsbürgerrichtlinie nicht mehr drin. Trotzdem blieb sie ein Streitpunkt.
Die Schweiz wollte Ausnahmen fixieren für den Fall, dass sie die Richtlinie eines Tages doch noch übernehmen müsste. Konkret forderte sie von der EU, das Aufenthaltsrecht von EU-Bürger:innen widerrufen zu dürfen, wenn diese eine Straftat begangen haben oder längere Zeit von Sozialhilfe abhängig sind.
Diese Möglichkeit ist in der Unionsbürgerrichtlinie eigentlich bereits vorgesehen – unter gewissen Bedingungen. Die Schweiz wollte mehr Autonomie bei solchen Entscheiden.
Die Unionsbürgerrichtlinie ist eine Weiterentwicklung der Personenfreizügigkeit. Der freie Personenverkehr war bereits im Vertrag von Maastricht von 1994 verankert. Doch die Details blieben lange unklar.
Deshalb handelten die Vertragsstaaten der europäischen Union – auch im Zuge der Osterweiterung – die Unionsbürgerrichtlinie aus. Diese regelt nicht nur das Aufenthaltsrecht, sondern auch die sozialversicherungsrechtlichen Folgen eines Umzugs von einem EU-Land in ein anderes. Ziel ist es, dass alle EU-Bürger:innen bei den Sozialversicherungen gleichbehandelt werden.
Sie forschen dazu, was Parteien und Bevölkerung über die Ansprüche von EU-Bürger:innen auf Sozialleistungen in der Schweiz denken. Was sind die Ergebnisse?
Am IDHEAP der Universität Lausanne haben wir eine Umfrage unter Schweizer Stimmberechtigten durchgeführt. Wir haben die Leute gefragt, was sie über Sozialleistungen für EU-Bürger:innen beziehungsweise konkret für Deutsche, Spanier:innen und Bulgar:innen denken. Dann haben wir die Antworten damit verglichen, welche Partei die Befragten wählen.
Die vorläufigen Ergebnisse zeigen starke Unterschiede zwischen Wähler:innen des linken und rechten Flügels. Zum Beispiel würden Wähler:innen der Grünen und der Sozialdemokratischen Partei EU-Bürger:innen bereits nach einem Jahr Aufenthalt in der Schweiz Zugang zu Sozialleistungen geben.
Wähler:innen der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der FDP.Die Liberalen und der Partei Die Mitte sind restriktiver: Sie würden EU-Bürger:innen erst dann Sozialleistungen zugestehen, wenn sie fünf Jahre in der Schweiz gearbeitet hätten und den Bulgar:innen sogar erst, wenn sie die schweizerische Staatsbürgerschaft hätten.
Gibt es auch eine Spaltung zwischen der Bevölkerung und den Parteien?
Bei der SVP haben wir etwas Interessantes festgestellt. Diese Partei fordert ja mehr Einschränkungen. Wir haben in unserer Forschung festgestellt, dass viele Kantone und Gemeinden europäischen Bürger:innen Sozialleistungen gewähren, obwohl dies so in den EU-Abkommen nicht vorgesehen wäre. Weil Sozialleistungen in die Kompetenz der Kantone und Gemeinden fallen, können die Parteien auf Bundesebene wenig ausrichten. Die SVP hat die Kantone eher symbolisch aufgefordert, EU-Bürger:innen Sozialhilfe zu verweigern.
Wir haben also paradoxerweise festgestellt, dass die Forderungen der rechten Parteien, insbesondere der SVP, weniger restriktiv sind als die ihrer Wählerschaft. Die Forderungen der Wähler:innen gehen über das hinaus, was die Partei tatsächlich fordert.
Der EuGH ist in den letzten Jahren immer restriktiver bei den Ansprüchen von EU-Bürger:innen gegenüber Sozialwerken anderer EU-Mitgliedsländer geworden. Warum?
Zunächst ist es wichtig zu sagen, dass nicht alle Expert:innen zum Schluss kommen, die Rechtsprechung des EuGH habe sich dramatisch verändert. Manche Rechtsexpert:innen argumentieren, es habe einfach neue Fälle mit anderen Umständen gegeben.
Andere Studien haben jedoch gezeigt, dass der Gerichtshof auf einen Meinungsumschwung reagiert hat. In einigen EU-Ländern wurde die Bevölkerung nach der Osterweiterung kritischer. Unsere Untersuchung deckt sich mit diesem Forschungsergebnis.
Wir haben aber herausgefunden, dass der EuGH nicht so sehr auf den öffentlichen Meinungsumschwung, sondern eher auf die Argumente der Mitgliedsstaaten reagiert hat. Der EuGH beruhigt die Mitgliedsstaaten, indem er sagt: Es ist ok, keine Sozialleistungen an Personen zu geben, die nie im Land gearbeitet haben.
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Unionsbürger-Richtlinie: Ist sie das Monster, das wir fürchten?
Dass die EU selbst zurückbuchstabieren musste, hilft der Schweiz wohl bei ihren Forderungen nach Ausnahmen bei der Unionsbürgerrichtlinie.
Das könnte man meinen, ja. Aber die Verhandlungen haben gezeigt, dass dem nicht so ist.
Die EU reagiert zwar auf die Forderungen der Mitgliedsländer, indem sie die Koordination der Sozialversicherungen zwischen den Ländern reformieren und die Unionsbürgerrichtlinie ergänzen möchte.
Nebst der Rechtsunsicherheit sind nämlich die unterschiedlich ausgestalteten Sozialversicherungssysteme der Mitgliedsländer eines der grössten Probleme. Nicht nur die Leistungen unterscheiden sich von Land zu Land, auch deren Finanzierung: In manchen Ländern werden die Leistungen durch individuelle Beiträge finanziert, in anderen durch Steuern oder eine Mischfinanzierung.
Die EU erkennt also einen Handlungsbedarf. Sie ist aber nicht bereit, einzelnen Ländern Ausnahmen zu gewähren. Die EU war sowohl gegenüber der Schweiz als auch gegenüber Grossbritannien – Stichwort Brexit – sehr zurückhaltend, massgeschneiderte Freizügigkeitsabkommen zu schliessen. Denn die Personenfreizügigkeit ist einer der Grundpfeiler des europäischen Integrationsprojekts.
Nicht nur zwischen der Schweiz und der EU, sondern auch innerhalb der EU gibt es ein Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern. Wie wird das bei den Sozialwerken berücksichtigt?
Die EU löst das Problem auf zwei Schienen: Durch Kontrolle der Arbeitsbedingungen und Löhne im Gastland sowie durch Regulierung der Sozialpolitik. Genau deshalb sieht ein Artikel in der Unionsbürgerrichtlinie vor, dass Arbeitssuchenden und Nichterwerbstätigen keine Sozialhilfe gewährt werden muss.
Es geht ja nicht nur um Sozialhilfe. Was ist, wenn man beispielsweise in einem Land Beiträge für die Arbeitslosenversicherung und die Altersrente einzahlt und dann in ein anderes Land zieht?
Es gibt ein Koordinationssystem und die Schweiz ist Teil davon. Das Problem ist, dass dieses Koordinationssystem nicht sehr gut funktioniert. Deshalb will die EU Reformen.
Gibt es Sogwirkungen?
Studien haben mehrfach gezeigt, dass es keinen Sozialhilfetourismus gibt. Die Annahme, dass die Leute in ein bestimmtes Land ziehen, um von Sozialhilfe zu leben, konnte von der Forschung nicht bestätigt werden.
Wenn man Migrant:innen fragt, warum sie in ein anderes Land ziehen, ist es nie wegen eines grosszügigeren Sozialversicherungssystems.
Sie können also kein Land empfehlen, in das man kurz vor der Pensionierung ziehen sollte?
(lacht) Nein. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Leute im Alter in südliche Länder ziehen wollen – aber wegen der Sonne, nicht wegen der Renten!
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