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Schweizer in Lateinamerika: nah und doch so fern

Helvecia, eine 1818 von einer Handvoll Schweizern im Bundesstaat Bahia, Brasilien, gegründete Kolonie. Christian Doninelli

Schweizer in Lateinamerika interessieren sich laut einer Studie zwar für die Politik ihres Herkunftslandes, nehmen aber nur mässig an Abstimmungen und noch weniger an Wahlen teil. E-Voting könnte das ändern.

Die erste interessante Erkenntnis: Die prozentuale Verteilung der Schweizer in Lateinamerika nach Herkunftskanton entspricht der Verteilung der Bevölkerung nach Kantonen in der Schweiz. Die Schweizer aus allen Kantonen scheinen einheitlich nach Lateinamerika ausgewandert zu sein.

Die Studie

Im Sommer 2016 wurde mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds eine Umfrage durchgeführt, um Formen des politischen Transnationalismus unter den in Lateinamerika lebenden Schweizern zu identifizieren. swissinfo.ch beteiligte sich an der Online-Umfrage der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) in Genf. Der Fragebogen lieferte Informationen über das soziodemografische Profil, den Migrationsverlauf und die politischen Einstellungen (auch Staatsbürgerkompetenz genannt) der Befragten. Die Gesamtstichprobe besteht aus 539 Schweizern aus Lateinamerika.

Die meisten Befragten sind Einwanderer der ersten Generation (43%). Die zweite Generation – die in Lateinamerika geborenen Kinder von Schweizer Migranten – kommt mit 25% an zweiter Stelle. Fast die Hälfte der Befragten gab als Migrationsgrund (den eigenen oder jener der Eltern) die Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten an.

Gut informiert über die Schweizer Politik

Welche Verbindungen behalten Schweizer in Lateinamerika zum politischen System in ihrem Herkunftsland? Um das zu messen, haben wir in der Studie verschiedene staatsbürgerliche Kompetenzen berücksichtigt. Die Antworten zeigen ein hohes Interesse am politischen Leben in der Schweiz.

Die Schweizer in Lateinamerika sind sehr gut über die Funktionsweise des Schweizer Politsystems informiert. So konnten beispielsweise drei Viertel der Befragten ein Referendum oder eine Volksinitiative der letzten fünf Jahre nennen. Fast ebenso viele wussten von der Dauer der Amtszeit der Bundespräsidenten (ein Jahr).

65% der Befragten konnten sogar korrekt beantworten, wie die Bundesratsmitglieder gewählt werden (durch das Parlament). Dieser Wert ist vergleichbar mit jenem der Inlandschweizer. Und er ist höher als bei Schweizern, die in europäischen Ländern leben.

Claudio Bolzman ist ordentlicher Professor an der HES-SO in Genf und Dozent an der Universität Genf. Er ist Experte für Migration sowie transnationale und grenzüberschreitende Fragen. DR

Neun von zehn Befragten verfolgen zumindest gelegentlich politische Ereignisse in der Schweiz. Sie sprechen auch mit ihrer Familie und ihren Freunden darüber. Drei Viertel geben an, dies gelegentlich zu tun und ein Fünftel sogar regelmässig.

Eigentlich kein Wunder: Im Internetzeitalter können Nachrichten ohne grossen Aufwand verfolgt werden. Das Reden über Politik hingegen erfordert mindestens einen Gesprächspartner. Diese Ergebnisse unterscheiden sich denn auch nicht von jenen der Inlandschweizer oder der Schweizer, die in Industrieländern wohnen.

Hohe Wirksamkeit….

Ein weiterer Schwerpunkt der Umfrage war die Messung der so genannten politischen Effektivität der Schweizer (politische Wirksamkeit) in Lateinamerika. Diese teilt sich in zwei unterschiedliche Werte, von denen der erste die Fähigkeit ausdrückt, eine konkrete politische Realität zu verstehen, und der zweite die Überzeugung der Befragten über ihre Fähigkeit, das politische System zu beeinflussen. Beide Prozentsätze sind hoch (74% und 71%) – und sogar 30% höher als bei den Schweizern.

Das ist nicht verwunderlich: Erstens hat sich die Fünfte Schweiz seit Anfang der 2000er-Jahre für elektronisches Abstimmen engagiert, weil sie sich ihrer Wahlstärke bewusst ist. Zweitens sind Auslandschweizer der Komplexität der direkten Demokratie grundsätzlich nur auf Bundesebene ausgesetzt. Die Inlandschweizer hingegen müssen sich mit dem politischen System auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene befassen.

…aber schwache Partizipation

Pablo Biderbost ist Assistenzprofessor am Institut für Internationale Beziehungen der Universidad Pontificia Comillas in Madrid. Er ist Experte für die politische Dimension von Migration sowie für öffentliche Innovation, Anti-Korruptionsstrategien und lateinamerikanische Politik. DR

Die vierte und letzte gemessene Staatsbürgerkompetenz ist die politische Partizipation. Mehr als die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer in Lateinamerika (52%) haben beantragt, im Konsulat ihres Wohnortes abstimmen zu können. Auf die Frage, ob sie in den letzten fünf Jahren tatsächlich für ein Referendum oder eine Initiative gestimmt haben, antworten nur 41% mit Ja.

Bei den letzten Parlamentswahlen im Oktober 2015 haben nur 18% teilgenommen, was im Vergleich zu den in Europa wohnhaften Schweizern (61%) sehr gering ist.

Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen. Erstens lebt die grosse Mehrheit der «Europa-Schweizer» in den Nachbarländern der Schweiz (Frankreich, Italien und Deutschland). Sie sind geografisch weniger «getrennt». Sie können per Post abstimmen oder zum Wahllokal in ihrer Gemeinde gehen, die Reise ist nicht so weit.

Ganz anders sieht es aus, wenn man auf der anderen Seite des Ozeans lebt. Die einzige wirkliche Option für Schweizer in Lateinamerika ist die Briefwahl, die, wie die Auslandschweizerorganisation wiederholt erklärt hat, nicht richtig funktioniert (insbesondere wegen der Langsamkeit der Poststellen).

Die Lösung: E-Voting

Nach dem Gesagten ist es notwendig, die Einführung von elektronischen Abstimmungsmöglichkeiten voranzutreiben. Inzwischen ist bekannt, dass Internet-Abstimmungen anfällig für Einmischungen durch ausländische Mächte sein können. Die Sicherheit muss deshalb erhöht werden, damit Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer mehr politische Sichtbarkeit erhalten und damit zur Verbesserung der Qualität der Schweizer Demokratie beitragen können.

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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