«Die Schweiz darf selbstbewusster sein – sie muss»
Das Gefüge relativ gleichgestellter Gross- und Mittelmächte, die sich untereinander relativ einig sind, neigt sich seinem geschichtlichen Ende zu, schreibt Gastautor Konrad Hummler. Darin sieht der einstige Bankier eine grosse Chance für den Kleinstaat Schweiz. Aber auch eine ganz spezifische Gefahr.
Was macht die Schweiz im Innersten aus? Die Frage ist einfach beantwortet, wenn wir nach dem wirklich Unverzichtbaren fragen. Nach jenen fünf Dingen also, die wir auf eine einsame Insel mitnähmen, wenn wir denn müssten. Für mich sind es diese:
- Die gewachsene föderale Struktur mit den hohen Entscheidungskompetenzen auf unterer Ebene
- Die Mitsprache des Volkes in Angelegenheiten der Staatsführung
- Der ausgeprägte Sinn fürs Masshalten bei Begehrlichkeiten gegenüber dem Staat
- Die Gewährleistung des privaten Eigentums
- Das partizipative und nicht obrigkeitliche Staatsverständnis.
Alles Wissen und alle Erfahrungen weisen darauf hin, dass die machtferne kleine Nation in vielen weltpolitischen Situationen ihre Vorzüge hat. Um in deutlich schwierigeren Zeiten als kleine Nation überleben und gedeihen zu können, braucht es aber einen inneren Konsens. Heute fehlt der Schweiz ein kleinster gemeinsamer Nenner, mit dem, von Ausnahmen abgesehen, sozusagen alle einverstanden sein könnten.
Ein kleinster gemeinsamer Nenner,
- den zu verletzen kein Bundesrat, kein Bundesbeamter, kein Richter wagen würde,
- von dem das Volk wüsste, dass keine doppelten Agenden ihn langsam, aber sicher erodieren lassen,
- der auch in schwierigen Zeiten gehalten und verteidigt werden kann.
Wir erleben gerade ganz offensichtlich eine globale Zeitenwende. Die Zeit des einheitlichen Grundprinzips ist vorbei. Das Gefüge relativ gleichgestellter Gross- und Mittelmächte, die sich untereinander relativ einig sind, neigt sich seinem geschichtlichen Ende zu. An seine Stelle tritt ein mehr oder weniger ausgeprägtes Grossmachtverhalten der einzelnen Staaten. Die kalte Übernahme der Krim durch Putins Russland war der erste Mahnruf dieser grossen Veränderung. Es folgten die unverblümte Ankündigung der japanischen Aufrüstung durch Ministerpräsident Abe und der Bau von dem chinesischen Festland vorgelagerten Befestigungsinseln. Die gepflegte Rhetorik der Diplomatie hat mittlerweile ungewohnte, grotesk bis gefährlich erscheinende Züge angenommen.
Die gepflegte Rhetorik der Diplomatie hat mittlerweile ungewohnte, grotesk bis gefährlich erscheinende Züge angenommen.
Der Vorwurf der Rosinenpickerei relativiert sich
Der Kleinstaat hatte es in der Phase des einheitlichen Grundprinzips schwer. Wenn sich sozusagen alles auf der Welt anzugleichen scheint, worin soll dann noch eine Berechtigung zur entschiedenen Andersartigkeit liegen? Wozu ein sehr spezieller Kleinstaat, wenn sich rundherum alles aneinanderschmiegt? Die Frage, wie berechtigt die Schweizer Eigenständigkeit ist, prägte auch die Diskussion im Landesinnern. Wir diskutierten ungut über Integration und Rosinenpickerei, über Hinwendung zum europäischen Koloss und anachronistische Rückwärtsgewandtheit. Wenn aber die Welt künftig von Grossmächten geprägt sein wird, die nur ihr Interesse im Auge haben, dann relativieren sich diese Fragen sehr. Die Besinnung auf die eigenen Vorzüge ist heute kein Verbrechen mehr.
Überstaatlich zu denken entsprach dem Zeitgeist
Der Versuch, auf dem europäischen Kontinent eine Einheit zu schaffen, war über die letzten Jahrzehnte die wohl grösste Herausforderung für die Schweiz als Kleinstaat. Dies aus ganz praktischen Gründen. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind beträchtlich, die Abhängigkeit der Exportnation Schweiz vom europäischen Umland offensichtlich. Es ist darum logisch, dass in der Schweiz wesentliche politische Kräfte starke eurozentrische Züge annehmen mussten. Aber nicht nur das: Auch gedanklich erschien die helvetische Kleinstaaterei als veraltetes Modell. In Europa schien man ja den Nationalismus hinter sich gelassen zu haben. Überstaatlichkeit, Grenzen sprengen, das wurde zur Lokomotive des Zeitgeists. Nun, da dieser grosse monistische Versuch in Europa zum Stillstand gekommen ist, relativiert sich diese Sichtweise.
Die helvetische Kleinstaaterei erschien als veraltetes Modell. In Europa schien man ja den Nationalismus hinter sich gelassen zu haben.
In Europa ist heute alles möglich
Dennoch ist es zu früh, die Reformfähigkeit der Europäischen Union für tot zu erklären. Neue europäische Bindungskräfte können durchaus ausgelöst werden, etwa durch inneren Druck, erzeugt durch unbequeme Wahlresultate in einzelnen Ländern, durch ein Aufflammen der Staatsschuldenkrise oder durch eine neuerliche Verschärfung des Migrationsproblems, aber auch durch grosse Verschiebungen im globalen Gefüge. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Denn vieles ist heute in Frage gestellt, was früher unerschütterlicher Bestand eines historisch einmaligen Zusammenschlusses auf unserem Kontinent zu sein schien. Weder die Einheitswährung noch die Personenfreizügigkeit noch der ausdrückliche Verzicht auf verschiedene Integrationsgeschwindigkeiten sind heute für den nüchternen Europäer mehr unantastbar. Europa ist heute einem «Anything goes» näher als je zuvor.
Will Bern noch immer nach Brüssel?
Für den Kleinstaat Schweiz ist das Chance und Gefahr zugleich. Chance, weil sich nun erneut die Gelegenheit ergibt, als europäisches Kernland zur Zukunft des Kontinents beizutragen. Die Schweiz ist in vielerlei Hinsicht Modell aufgrund von Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit, einer – trotz rekordhohem Ausländeranteil – funktionierenden Zivilgesellschaft, Arbeitswille, Demokratie und innerstaatlicher Toleranz. Es wäre töricht, diesen über Jahrhunderte aufgebauten helvetischen Besitzstand aufzugeben zugunsten eines europäischen gemeinschaftlichen Besitzstands (Aquis communautaire), der sich oft nicht bewährt hat und nun einer tiefgreifenden Reform bedarf. Die Schweiz darf, ja muss sich zu Wort melden. Sie muss ihren Aquis als mindestens gleichwertig dem europäischen gegenüberstellen.
Chefbeamte wollen weg vom lästigen, direktdemokratisch bewehrten Bürger, hinein in das Paradies der Bürgerferne Brüssels.
Die Gefahr ist freilich, dass eine so selbstbewusste Haltung dem kurzfristigen Kalkül so genannter wirtschaftlicher Interessen und ängstlicher Kleingeisterei mediokrer Magistraten und Diplomaten zum Opfer fällt. Konkret befürchte ich: In Bern existiert eine versteckte Agenda, die den „EU-Beitritt trotz allem und wider Willen“ verfolgt. Dies teilweise aus – durchaus wohlgemeinten – technokratisch motivierten Gründen. Teilweise aber auch, weil sich manche Parlamentarier, manche Chefbeamte insgeheim nach einer Bedeutungssteigerung ihrer Position auf europäischer Ebene sehnen. Sie wollen weg vom lästigen, direktdemokratisch bewehrten Bürger, hinein in das Paradies der Bürgerferne Brüssels. Ich verstehe das. Und sehe darin Gefahr.
Von der Debatte zur Doktrin
Ob der Kleinstaat künftig Erfolgsmodell bleibt, ist eine Frage des Willens. Man muss Kleinstaat sein wollen. Es gibt Unverzichtbarkeiten. Es gibt Grenzen der Verwässerung. Die gegenwärtige Zeitenwende wird diese Willensfrage stellen. Ich finde es wichtig, dass wir nun die Sinne schärfen und diese Debatte führen. Auf dass sich daraus eine von allen getragene Doktrin ergibt, die unser Land und dessen Bürger in eine von Freiheit, Wohlstand und Recht geprägte Zukunft führen wird.
Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung eines Kapitels aus dem soeben erschienenen Buch «Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?»Externer Link, herausgegeben von Konrad HummlerExterner Link und Franz Jaeger.
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