UNO-Sonderberichterstatter über Folter: Millionen sind gefährdet
Wie ist das, "UNO-Sonderberichterstatter über Folter" zu sein? swissinfo.ch traf den Schweizer Nils Melzer, den Mann, der diesen Titel hat, und war überrascht zu erfahren, dass seine grösste Sorge den Millionen von Migranten weltweit gilt.
Wenige Tage nach der Begegnung wurde bekannt, dass Melzer für das UNO-Amt des obersten Hüters für Menschenrechte kandidiert. Inzwischen hat UNO-Generalsekretär António Guterres aber angekündigt, dass die ehemalige chilenische Präsidentin Michelle Bachelet neue UNO-Kommissarin für Menschenrechte in Genf werden soll. Melzer wird deshalb weiterhin als Sonderberichterstatter über Folter tätig sein.
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Auch Melzers Kinder wollten schon wissen, was ihr Vater bei seiner Arbeit eigentlich macht. «Als mich meine ältere Tochter fragte, was Folter ist, antwortete ich: ‹Wenn man jemanden absichtlich verletzt.'» Schon eine Stunde später sei die Achtjährige schreiend auf ihn zugelaufen: «Jetzt musst du eingreifen. Meine kleine Schwester hat mich soeben gefoltert.» Diese Episode habe ihm bewusst gemacht, in welcher privilegierten Situation sie hier in der Schweiz aufwachsen könnten, weit entfernt von der Realität von Folter.
Unabhängiger Experte
Melzer hat einen Lehrstuhl an der Genfer Akademie für Menschenrechte. Er war lange für das Internationale Rote Kreuz tätig und lehrt heute als Professor für Völkerrecht an der Universität Glasgow. UNO-Sonderberichterstatter sind unabhängige Experten, die auf freiwilliger, unbezahlter Basis arbeiten. Weshalb macht er das?
«Für mich ist es ein grosses Privileg, diese Aufgabe wahrzunehmen, die mir erlaubt, einen Beitrag zur Verhinderung von Folter leisten zu können. Ich habe nicht nur direkten Kontakt zu den Ministern der UNO-Staaten, sondern auch zu jedem Gefangenen auf der Welt», sagt er.
«Ich habe nicht nur direkten Kontakt zu den Ministern der UNO-Staaten, sondern auch zu jedem Gefangenen auf der Welt.»
«Die Stärke meines Mandats ist, dass es sich nicht um ein Gremium handelt, sondern dass ich direkt vom Menschenrechtsrat beauftragt bin. Das bedeutet, dass ich nicht nur in Ländern intervenieren kann, welche die Menschenrechtsabkommen ratifiziert haben, sondern auch in anderen Ländern, sofern diese Mitglied der UNO sind.» Länderbesuche sind zwar nur im Einverständnis mit dem betroffenen Staat möglich, aber sie sind ein wichtiger Teil des Mandats. Melzer war zum Beispiel nach dem Putschversuch vor zwei Jahren in der Türkei. Er war in Serbien, Kosovo und in der Ostukraine.
Zu seinem Mandat gehören auch individuelle Interventionen. Hier hat Melzer mehr Handlungsspielraum hat und kann unabhängiger von der UNO-Hierarchie agieren.
«Im Rahmen meines Mandats erhalte ich jeden Tag zehn bis fünfzehn Interventionsgesuche in Bezug auf Folteropfer», sagt er. «Das können Menschen sein, die vor einer Ausschaffung in ein Land stehen, wo sie Folter befürchten oder früher gefoltert wurden; oder Menschen, die zum Tod verurteilt wurden und auf ihre Hinrichtung warten. Ich bin eine Art ausserordentliche Instanz, zu der sie Zugang haben, sogar wenn alle Gerichtsinstanzen ausgeschöpft sind.»
Normalerweise haben dringliche, lebensrettende Interventionen für Melzer Priorität. «Angesichts meiner Kapazitäten kann ich durchschnittlich nicht mehr als zwei Interventionen pro Tag ausführen. Die anderen werden, wenn immer möglich, an andere Stellen geleitet. Leider kann ich aus Mangel an genügend Mitarbeitenden nicht auf alle Gesuche eingehen. Diese individuellen Interventionen sind vielleicht der wichtigste Aspekt meines Mandats, weil sie es mir ermöglichen, den Schutz einer bestimmten Person zu verteidigen.»
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Millionen Migranten in Gefahr
Melzers vollständiger Titel lautet «UNO- Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe». Angesichts der zahlreichen weltweiten Konflikte sind Melzers Kapazitäten mehr als ausgelastet. Wenn es eine bestimmte Situation gibt, die ihn ganz besonders beunruhigt, was wäre das?
«Der Kontext, der mir derzeit am meisten Sorgen macht, ist jener der illegalen Migration, weil es um mehrere Millionen Menschen – die Zahl entspricht den Einwohnern eines mittelgrossen Landes – weltweit geht. Sie haben keinen rechtmässigen Status, befinden sich irgendwo zwischen Grenzen und werden aus den normalen sozialen Lebensverhältnissen hinausgeworfen», sagt er.
«Sie sind Misshandlungen, Folter, Missbrauch, Vergewaltigung und sogar Versklavung besonders stark ausgesetzt. Viele Länder, auch entwickelte Länder, verhindern, dass sie den Schutz bekommen, den sie bräuchten. Es gibt sogar Staaten, die mit anderen Staaten Verträge abschliessen, um diese Leute künstlich in der Schwebe zu halten oder in eine Situation bringen, in der sie Misshandlungen extrem ausgesetzt sind.»
Einige UNO-Sonderberichterstatter, unter ihnen auch Melzer, gaben kürzlich eine öffentliche Erklärung ab, in der sie die amerikanische Politik verurteilten, wonach Migranten-Kinder an der mexikanischen Grenze von ihren Eltern getrennt werden. «Diese Praktiken sind ein sehr schlechtes Beispiel und nicht kompatibel mit den internationalen Verpflichtungen der USA zur Verhinderung von Misshandlungen», sagt er.
«Das Problem ist umso grösser, als dass die USA ein Beispiel für andere Staaten auf der Welt abgeben, und der amerikanische Präsident zum Beispiel öffentlich erklärt, dass ‹Waterboarding› als Verhörmethode funktioniere. Diese Art von Standard-Setting durch eine führende westliche Nation, die traditionellerweise anderen Ländern die Richtung vorgibt, ist sehr gefährlich. Was können wir dann von anderen Ländern erwarten, die weniger Macht haben? Wie werden diese Länder mit Migranten umgehen, und wie werden sie Befragungen mit diesen Menschen durchführen?»
«Es gibt Staaten, die sich über die Ankunft all dieser Migranten an ihren Grenzen beklagen, aber Waffen in die gleichen Länder schicken, aus denen die Leute flüchten. «
Globale Verantwortung
Irreguläre Migration sei nicht ein amerikanisches, sondern ein globales Thema, sagt Melzer. «Man kann nach Mexiko gehen, in andere Länder Zentral- oder Südamerikas, nach Libyen, in den Nahen Osten, nach Australien oder Bangladesch mit den Rohingyas, die aus Myanmar flüchteten – Millionen und Abermillionen von Menschen befinden sich in extrem schwierigen Lebensverhältnissen und niemand fühlt sich für sie verantwortlich.»
Was müsste getan werden? Melzer lehnt sich zurück und überlegt einen Moment lang.
«Als erstes sollten wir uns hier vergewissern, dass diese Tragödie mit der irregulären Migration das Resultat eines grösseren systemischen Problems ist», antwortet er schliesslich. «Es gibt Staaten, die sich über die Ankunft all dieser Migranten an ihren Grenzen beklagen, aber gleichzeitig Waffen in die gleichen Länder schicken, aus denen die Leute flüchten. Sie unterstützen Geschäftspraktiken, die unmenschliche Arbeitsbedingungen in diesen Ländern begünstigen, oder unterstützen beziehungsweise verhindern die Politik nicht, die dort zu desaströsen Umweltschäden führt. Wir können nicht in der gleichen Art und Weise fortfahren und erwarten, dass sich etwas ändert.»
Die Bedeutung der Familie
Die Fälle, mit denen Melzer zu tun hat, machen ihn betroffen. «Manchmal fällt es mir sehr schwer, damit umzugehen», sagt er. «Viele Menschen, für die ich interveniere, können der Folter oder Hinrichtung nicht entgehen. Ich muss mir bewusst machen, dass ich nicht die ganze Welt ändern kann. Aber ich kann zumindest versuchen, die Welt eines bestimmten Individuums zu ändern. Wenn es gelingt, die Trennung eines Kindes von seinen Eltern zu verhindern, werde ich deren ganze Welt verändert haben. Und dafür lohnt es sich zu arbeiten. Mehr zu erwarten, wäre eine Garantie für ein Burnout.»
Laut Melzer hilft ihm seine Familie, auf dem Boden zu bleiben. «Sie brauchen mich, und ich brauche sie. Wir brauchen gemeinsame Zeiten», sagt er. «Ich geniesse es sehr, mit den Kindern schwimmen zu gehen, ihnen das Velofahren beizubringen. Es ist wichtig, im Alltag, in der Familie und der Wirklichkeit verankert zu sein, wenn man eine Aufgabe wie diese wahrnimmt.»
Nach Artikel 1 der UNO-Konvention Externer Linkversteht man unter Folter jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden. Zum Beispiel,
- um von der Person oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen
- um sie für eine tatsächlich oder mutmasslich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen
- um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen
- oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierungen beruhenden Grund
Voraussetzung ist gemäss Artikel 1, dass:
- die Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes
- oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person
- auf deren Veranlassung
- oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden.
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(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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