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Intervenieren, bevor jemand eine Burka oder einen langen Bart trägt

Giovane con il volto coperto da una sciarpa nera
Es ist eine Mischung aus Misstrauen, Frustration und Wut, die den Teufelskreis aus Islamophobie und Gewalt nährt. Im Bild ein Schüler, der sich im Rahmen eines Schulprojektes als Islamist verkleidet. Im Rollenspiel sollen die Schüler lernen, wie sie Anwerbeversuchen von Salafisten entgegentreten können. Keystone/ DPA / Boris Roessler

Viele Länder stehen vor der Frage, wie man die Radikalisierung von jungen Muslimen verhindern kann. Im bernischen Biel zeigt eine Frau mit einem schweizweit einzigartigen Projekt eine mögliche Antwort auf.

«Noch nie in den 20 Jahren, die ich in der Schweiz lebe, ist mir so etwas passiert!», ruft Naïma Serroukh, noch immer sichtlich erschüttert. Mitte September hat sie an einer FachtagungExterner Link der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) über Muslimfeindlichkeit an der Universität Freiburg teilgenommen. «Zum ersten Mal habe ich gesehen, wie die Polizei Eingangskontrollen an einer Universität gemacht hat.» Der Grund für diese Sicherheitsmassnahme: Die Organisatoren der Veranstaltung haben Drohbriefe erhalten. «Schon nur über Muslimfeindlichkeit zu sprechen, scheint zu stören», sagt Serroukh.

Serroukh trägt ein Kopftuch. Sie spürt eine zunehmende Muslimfeindlichkeit. Sei es im Alltag – Beleidigungen, Bespucken und Aggressionen – in der Politik oder den Medien. Serroukh stellt es unaufgeregt fest, aber dezidiert. Sie sei es leid, sich immer für ihre Religion rechtfertigen zu müssen. 
Die Frau ist nicht die einzige, die eine wachsende Islamophobie feststellt. Laut EKR leiden Muslime auf den sozialen Netzwerken seit Jahren an den Folgen einer «Propaganda, die Emotionen schürt, Misstrauen sät und zu sozialem Ausschluss führt.» 

Aber genügt eine solche Stigmatisierung, um einen jungen Mann oder eine junge Frau dazu zu bringen, in den Dschihad zu ziehen oder einen Terrorakt zu begehen? «Es kann ein Element sein. Aber die Radikalisierung ist ein komplexer Prozess, der verschiedene Ursachen haben kann», sagt Serroukh.

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Radikalisierung überall möglich

Serroukh ist marokkanischer Herkunft und kam als Flüchtling mit 26 Jahren in die Schweiz, nachdem sie aus Tunesien, wo sie mit ihrem Mann lebte, vor dem Regime Ben Ali geflüchtet war. Ihr Abschluss als Juristin wurde in der Schweiz nicht anerkannt, deshalb musste sie ihre Ausbildung von vorn anfangen. «Ich habe im Bereich kulturelle Mediation, interreligiöser Dialog sowie Integration und politische Partizipation von Migranten gearbeitet «, erzählt sie. Seit einigen Jahren lebt sie in Biel, einer Stadt mit einem leicht überdurchschnittlichen Anteil an Muslimen (circa 7% der Bevölkerung).

«Die Realität der Muslime in Biel widerspiegelt jene in der Schweiz. Es ist eine heterogene Gemeinschaft, mit einer grossen kulturellen und ethnischen Vielfalt. Nebst der türkischen und albanischen Mehrheit gibt es eine arabischsprachige Diaspora aus dem Maghreb und Syrien sowie eine afrikanische Gemeinschaft», sagt Serroukh.

Biel geriet kürzlich wegen eines mutmasslichen Hasspredigers sowie zwei jungen Frauen, die sich dem IS in Syrien anschlossen, in die Schlagzeilen. Ist Biel eine problematische Stadt? «Das würde ich nicht sagen. Fälle von Radikalisierung gab es auch in Winterthur, Lausanne und Genf. Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris wurde uns bewusst, dass Radikalisierung ein überall auf der Welt präsentes Risiko ist, auch in der Schweiz», sagt Serroukh, die nach ebendiesem Attentat im Januar 2015 beschlossen hat, das Projekt TasamouhExterner Link zu lancieren.

Dschihad-Reisende

Bisher sind 72 Personen aus der Schweiz in die Kriegsgebiete im Irak und Syrien gereist, oder haben es versucht, wie eine Recherche des Tages-AnzeigersExterner Link zeigt. Zu den Schweizer Dschihadisten-«Hochburgen» gehören laut der Tageszeitung Winterthur (12 Fälle), Lausanne (9), Genf (5), Biel (4) und Arbon (4) im Kanton Thurgau.

Gemäss Daten des Schweizer Nachrichtendienstes sind 89 Personen aus der Schweiz ausgereist, um sich dem so genannten Islamischen Staat oder anderen extremistischen Gruppierungen (vom mittleren Osten bis Somalia) anzuschliessen.

Junge ohne Identität

Ziel von Tasamouh, was auf Arabisch «Toleranz, Versöhnung, Vergebung» bedeutet, ist die Verhinderung von Radikalisierung von jungen Muslimen. Am anfälligsten sind jene, die Serroukh als «Junge ohne Identität» bezeichnet. «Aus Schweizer Sicht sind sie zwar integriert, denn sie sprechen die lokale Sprache, gehen zur Schule oder arbeiten. Aber gleichzeitig fühlen sie sich weder als Schweizer noch als Muslime. Sie gehen nicht zur Moschee und sie haben nur geringe Kenntnisse über den Islam. Die Eltern haben ihnen die Traditionen des Herkunftslandes überliefert, nicht aber die Religion. Die Jungen schaffen es jedoch nicht, eine Unterscheidung zu machen.»
Serroukh erzählt von einem jungen Mann, der die Haltung seiner Mutter nicht verstehen konnte. «Im Unterschied zu den Müttern seiner Freunde trug sie kein Kopftuch und war nicht praktizierend. Der Junge fragte sich, warum seine Mutter nicht wie andere Musliminnen war. Er fühlte sich verwirrt, ohne Bezugspunkte. Und in diesem Moment ist der Junge beeinflussbar.»
Das Problem entsteht also innerhalb der Familie? «Leider sind tatsächlich die meisten Eltern, die ich kenne, abwesend. Häufig sind es auch Trennungsgeschichten. Einmal hat mich eine Frau angerufen: Sie erzählte mir, dass ihre 14-jährige Tochter Cannabis konsumierte. Ich sagte ihr, sie solle keine Szene machen und habe ihr Hilfe vermittelt. Andernfalls hätte der Vater das Mädchen geschlagen, von der Schule genommen und nach Tunesien geschickt. Aber das ist keine Lösung.»
Die Kinder rebellierten – vor allem in der Pubertät –, was in Wahrheit eine Suche nach sich selbst sei, sagt Serroukh. «Ich sage nicht, dass ein Jugendlicher in der Krise automatisch ein Dschihadismus-Risiko darstellt. Aber er ist eine leichte Beute.» Gefahr lauert laut Serroukh nicht nur vom extremistischen Islamismus. Auch soziale Ausgrenzung, Misstrauen gegenüber Behörden und Gemeinschaften, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit sind bekannte Probleme. Es ist eine Mischung aus Misstrauen, Frustration und Wut, die den Teufelskreis aus Islamophobie und Gewalt nährt.

Die Lösung? Zuhören

Das Projekt Tasamouh wird teilweise von der Stadt Biel finanziert und bietet nebst Beratungsdienst auch eine Ausbildung für Lehrer, Sozialarbeiter, Erzieher, Jugendarbeiter und Vertreter von religiösen Gemeinschaften. Mit anderen Worten für alle, die in Kontakt mit Jungen und ihren Familien sind. «Wir gehen in die Quartiere, an Treffpunkte oder einfach auf den Bahnhofsplatz. Wir möchten Personen, die sich aufgrund ihres religiösen Glaubens ausgeschlossen fühlen, eine Gelegenheit zum Sprechen geben», erklärt Serroukh. 
Diesen Sommer haben die ersten 14 Mediatoren ihre Ausbildung abgeschlossen. Männer und Frauen, im Alter zwischen 20 und 60 Jahren, die Französisch, Deutsch, Türkisch oder Tigrinisch sprechen. Einige sind Muslime, andere Christen oder Atheisten. Zu den Kursen, die sie besuchten, gehörte auch ein Kurs der Kantonspolizei Bern über Indoktrinierungsprozesse auf dem Internet. Für den Chef der Stadtpolizei Biel, Raymond Cossavella, ist Tasamouh laut einem Zitat in der Zeitung «Journal du Jura» ein mutiges Projekt, das einen «Schritt in die richtige Richtung macht» und Probleme unserer Gesellschaft benennt und angeht. 
Das Ziel des Projektes sei, so betont Serroukh, verdächtiges Verhalten zu erkennen und zu intervenieren. «Manchmal ist die Veränderung sichtbar, beispielsweise an der Art, sich zu kleiden, sich von Kopf bis Fuss zu bedecken oder den Bart wachsen zu lassen. Aber manchmal sieht man nichts. Und alles kann sehr schnell passieren: Ich war schockiert, als ich einen Ex-Dschihadisten sagen hörte, dass es nur zweieinhalb Monate dauerte, bis er nach Syrien reiste. Wir müssen handeln, bevor es zu einer Veränderung kommt. Danach ist es zu spät.»
Das Schweigen zu brechen, sei bereits ein erster Sieg, sagt Serroukh. «Aber es braucht vereinte Anstrengungen, vom einzelnen Bürger zur Politikwelt, von den islamischen Zentren zu den Behörden. Andernfalls werden wir scheitern.»

Muslime in der Schweiz

Es leben fast 450’000 Muslime in der Schweiz, das sind 5,5% der Bevölkerung. Die meisten stammen aus dem Balkan oder der Türkei. Es gibt circa 350 muslimische Vereinigungen und 300 Gebetsorte.

Die muslimische Gemeinschaft ist in der Schweiz allgemein gut integriert, allerdings haben einige Studien eine wachsende Ablehnung gegenüber Muslimen festgestellt. 2009 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung (mit 57,5% der Stimmen) eine Initiative an, die den Bau von Minaretten verbietet. Am 15. September 2017 wurde eine Volksinitiative eingereicht, die ein Vermummungsverbot einführen will. Das Tessin ist der bisher einzige Kanton, der Burka und Niqab an öffentlichen Orten verbietet.

Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi

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