Der junge Co-Pilot in Rudolf Caracciolas Silberpfeil
2016 war ein Spitzenjahr des Schweizer Automobilrennsports: Sebastien Buemi wurde auf Renault Weltmeister der Formel E, Neel Jani siegte mit Porsche in der Langstrecken-WM. Das Duo knüpfte damit an jene Zeiten an, als die Schweiz Rennsport-Hochburg war: Dank des Grand Prix der Schweiz in Bern. Der 91-jährige Hans Hostettler hat an die Austragungen in den 1930er-Jahren ganz besondere Erinnerungen.
Der Berner Hans Hostettler ist ein aussergewöhnlicher Mann: von 100 Menschen gäbe ihm kein einziger die 91 Jahre – das tatsächliche Alter des 1925 Geborenen.
Aussergewöhnlich ist auch sein erstes Auto, das er immer noch besitzt. Und gelegentlich immer noch fährt! Den Citroën Traction Avant Jahrgang 1948 kauft er 1950. Auf dessen Tacho stehen nach gut 67 Jahren 440’000 Kilometer – das sind mehr als zehn Umrundungen der Erde.
Und Hans Hostettler gehört zu den ganz wenigen Auserwählten, die als Nicht-Rennfahrer einen der legendären Silberpfeile von Mercedes-Benz fahren durften. Und das erst noch als Co-Pilot von Rudolf Caracciola, dem grössten Piloten der Zwischenkriegs-ÄraExterner Link.
Wie der kleine Hans ins Cockpit des Silberpfeils kam, davon später.
«Wir Quartierbuben waren in drei Fan-Lager aufgeteilt: es gab die Mercedes-Fraktion, dann jene für Auto Union sowie die Italiener, die Ascari und Nuvolari bewunderten.»
Der Zehnjährige aus dem Stadtberner Weissenbühlquartier hat nie auch nur den geringsten Zweifel: Für ihn kommen nur die Silberpfeile mit dem Mercedes-Stern in Frage.
Fünf Silberpfeile vor dem Haus
Der Grund liegt buchstäblich vor der Haustüre: «Das Werksteam von Mercedes Benz, das jeweils mit fünf grossen, schwarzen Militärlastwagen aus Stuttgart zum Grand Prix von Bern anreiste, gastierte jeweils auf dem Werkhof meines Grossvaters, der mit meinem Onkel ein Baugeschäft führte. Und dieser Platz, dessen Boden schön betoniert war, lag gleich gegenüber von unserem Wohnhaus», erzählt Hostettler.
Mit grossen Augen verfolgen er und seine Quartier-Kumpane, wie die deutschen Mechaniker von jedem Lastwagen einen Silberpfeil mit der Werkbezeichnung W 25 ausladen. «Dabei liessen sie die Rennwagen per Seilwinde langsam über zwei Rampen auf den Platz hinunter rollen.»
Zwischenbemerkung: Silberpfeil war die inoffizielle Bezeichnung, welche die deutschen Rennwagen der beiden Konkurrenten Mercedes Benz und Auto Union trugen. Dies aufgrund der Farbe, mit der die Karosserie aus Aluminium lackiert war.
Die drei Rennwagen und zwei Ersatzfahrzeuge waren bestimmt für das Fahrer-Trio Manfred von Brauchitsch, Hermann Lang und Rudolf Caracciola. «Sie waren unsere Helden», berichtet Hostettler. Aber nicht Helden aus einer fernen Welt, sondern solche, «die wir gekannt und mit denen wir gesprochen haben.»
Einer überragte alle: Rudolf Caracciola. Der Deutsche sieht beim GP der Schweiz auf der Bremgarten-RennstreckeExterner Link drei Mal als erster die schwarzweiss-karierte Flagge – 1935, 1937 und 1938. Dort, wo bei Start und Ziel einst die grosse Tribüne stand, steht heute eine grosse Wäscherei.
Für Caracciola ist der GP der Schweiz eine Art Heimspiel, lebt er doch in Lugano, wo er sich bereits 1931 eine VillaExterner Link hat bauen lassen. Und 1949 erhält er endlich die lang ersehnte Schweizer Staatsbürgerschaft.
Trotz seines Ruhmes aber wird er nicht mit offenen Armen empfangen. Vielmehr hat die Bundesanwaltschaft Vorbehalte betreffend angeblicher Verbindungen zum Hitler-Regime.
Herz des Grössten für den Kleinen
Ausgerechnet diesem Grössten aber hat es der kleine Hans angetan. «Er war ein grosser Fan von uns, und er bedankte sich immer für den schönen Platz, den wir dem Mercedes-Team jedes Jahr zur Verfügung stellten», erzählt Hostettler.
Dann, eines Trainings-Tages, schlägt die grosse Stunde des kleinen Hans: «Caracciola lud mich ein, mit ihm zur Rennstrecke zu fahren. So fuhr ich auf seinem Schoss sitzend im Silberpfeil durch die Stadt. Obwohl ich kaum über die Motorhaube hinaus gesehen habe, fühlte ich mich wie ein König.» Das auch angesichts der vielen Menschen, welche die Strassen hinaus an die Rennstrecke säumen und sich wohl wunderten, welchen Riesenlärm der Mini-Korso mit den drei Rennwagen trotz gemütlichem Tempo verursachen.
Bei der berühmten Forsthauskurve, wo die Piloten jeweils nach der langen und gefährlichen Fahrt durch den Bremgartenwald Richtung Zielgerade einbogen, hält Caracciola an und lässt ihn aussteigen. Es braucht wenig Fantasie, um den Knaben Hans vor uns zu sehen, wie er federnden Schrittes und mit geschwellter Brust den weiten Heimweg antritt.
Die Renntage selber sind für Hostettler und seine Freunde jeweils grosse Abenteuer. «Wir beluden unsere Velos mit Zelten und fuhren in den Bremgartenwald. Dort verfolgten wir dann die Rennen – ohne Eintrittskarten.»
Das Schicksal meinte es nicht gleich gut
Der Meister des Steuerrads im Silberpfeil aus der grossen Rennfahrer-Welt und sein kleiner Bewunderer aus dem Weissenbühlquartier: ihre Schicksale sollen einen ungleichen Verlauf nehmen. Caracciolas Stern sinkt mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Danach kann er nie wieder an seine früheren Triumphe anknüpfen.
1952, ausgerechnet beim Grand Prix der Schweiz, der ihm so grosse Erfolge beschwert hat, prallt er mit seinem Mercedes-Benz infolge Bremsdefekts in einen Baum. Der Unfall geschah in Runde 13. Ein zertrümmerter linker Unterschenkel bedeutet das Ende seiner Karriere.
Sieben Jahre später geht Hans Hostettlers beruflicher Stern auf: Mit der Siedlung Halen bei BernExterner Link, ihrem Erstling, erregen die fünf jungen Architekten des Atelier 5Externer Link, zu denen Hostettler zählt, 1959/60 grosses Aufsehen. In Bern, in der Schweiz und weit über die Landesgrenzen hinaus. Ihr Ruhm reicht bis nach Japan. Hostettler gehört zu den ersten Bewohner «seiner» Siedlung, wo er heute noch lebt.
Im selben Jahr erlischt der Stern von Rudolf Caracciola: Im Alter von nur 58 Jahren stirbt der Held von einst. Begraben ist er in Lugano. Seine Villa wurde 2015 abgerissen, um einem Luxuswohnhaus Platz zu machen.
Rennsportland Schweiz
Die Schweiz war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Hochburg des Autorennsports.
Die Grand Prix der Schweiz, ab 1934 ausgetragen auf dem gefährlichen Bremgarten-Rundkurs in Bern, gehörte mit jeweils bis zu 100’000 Zuschauern zu den grössten Anlässen der Schweiz.
Berühmt waren auch die Bergrennen, insbesondere jenes am Klausenpass. Auch der Berninapass wurde rennmässig erklommen.
Ab 1950 zählte der GP der Schweiz zur neugegründeten Weltmeisterschaft der Formel 1. Der Anlass figurierte in derselben Klassiker-Kategorie wie die Rennen auf dem Nürburgring und in Monaco
1954 war die letzte Austragung des GP Schweiz. Nach der Unfallkatastrophe 1955 in Le Mans wurden Rundstreckenrennen in der Schweiz verboten. Erlaubt sind seither nur noch Bergrennen sowie Rallyes.
Bei jenem 24h-Stundenrennen schlug ein Rennwagen nach einer Kollision auf einer Tribüne ein, wo er in Brand geriet. 81 Menschen starben.
In der Gegenwart hielt vor allem Peter Sauber mit seinem Formel 1-Team die Schweizer Rennsport-Tradition aufrecht. Im vergangenen Sommer jedoch musste er sein Lebenswerk an schwedische Investoren verkaufen.
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