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Grossfamilie Icboyun im Dienst des Grossverteilers

Wer einen Pronto-Shop führt, wird auch sonntags zur Kasse gebeten. swissinfo.ch

Anders als in den Nachbarländern bleiben die meisten Läden in der Schweiz abends und sonntags geschlossen. Aber es gibt immer mehr Ausnahmen. Dazu gehören die rund 250 Pronto-Shops des Grossverteilers Coop. swissinfo.ch hat einen besucht.

An diesem sonnig warmen Sonntagnachmittag im Juni macht kaum jemand einen Grosseinkauf. Die meisten Kunden des Basler Quartierladens in der Ecke zwischen der Güterstrasse und der Tiersteinallee besorgen sich nur rasch ein paar Kleinigkeiten, vor allem Frischprodukte wie Gemüse, Salate, Müsli, Brotwaren oder Milchprodukte. 

«Montag-Samstag 6-22h, Sonntag 7-22h», heisst es in grossen Buchstaben und Ziffern auf dem Schaufenster. Die langen Öffnungszeiten sind für den Laden ein starker Trumpf: «Unsere Stammkundschaft weiss genau, dass sie auch abends um 21 Uhr bei uns noch ein frisches Brot holen kann», rühmt der 33-jährige Geschäftsleiter Baris Icboyun. 

Seine türkisch-stämmige Familie bewirtschaftet seit 2006 einen der Coop Pronto-Shops, die der Grossverteiler in den letzten Jahren in zahlreichen städtischen Quartieren errichtet hat. Dass Coop für diese Shops auch mit Inseraten «Grossfamilien» sucht, liegt nicht an dessen familienfreundlicher Politik, sondern am Arbeitsgesetz.

Das Gesetz verbietet zum Schutz der Angestellten zwar grundsätzlich Sonntagsarbeit, macht aber eine Ausnahme für «Familienbetriebe, in denen lediglich der Ehegatte des Betriebsinhabenden und seine Blutsverwandten in auf- und absteigender Linie (Eltern, Grosseltern, Kinder, Enkel) tätig sind».

Familientreffen im Pronto-Shop

Deshalb trifft man sonntags, dem umsatzstärksten Wochentag, in diesem Pronto-Shop nur Mitglieder der Familie Icboyun an. Zurzeit sind auch Baris› Frau, seine Mutter und seine Schwägerin im Einsatz. Der Vater und die Geschwister arbeiten ebenfalls regelmässig im Geschäft mit.

«Am Sonntag kommt jedes Mitglied der Familie bestimmt einmal vorbei – es ist fast wie ein Familientreffen. Alle identifizieren sich mit dem Laden.» Die Eltern sind extra in eine Wohnung neben dem Shop gezogen, um bei Bedarf sofort zur Stelle zu sein. «Sie stehen manchmal auch 60 Stunden pro Woche im Geschäft», schwärmt Baris Icboyun.

Die türkische Grossfamilie hat als Betreiberin des Shops einen so genannten Franchising-Vertrag unterzeichnet. Für die Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) musste sie 45’000 Franken investieren.

«Dieser Betrag liegt als Ware in den Verkaufsregalen. Die Ware gehört der Familie Icboyun», ergänzt Jürg Kretzer. Der Pressesprecher der für die Pronto-Shops verantwortlichen Coop Mineralöl AG wollte beim Interview mit swissinfo.ch ebenfalls dabei sein. Schliesslich hat der Grossverteiler nicht nur einen zeichnungsberechtigten Vertreter sowie eine finanzielle Beteiligung von 5000 Franken in der GmbH, sondern ist auch Vermieter des Ladens und der Infrastruktur.

Geschäftsleiter Baris Icboyun stört sich nicht an der eingeschränkten unternehmerischen Freiheit: «Ich mache mir gar keine grossen Gedanken zu den Umsatzzahlen, weil ich weiss, dass Coop auch hinter mir steht, falls es nicht aufgehen würde», sagt der Jungunternehmer im Dienst des Grossverteilers.

Die Gefälligkeiten beruhen auf Gegenseitigkeit: «Wir hätten gerne ausschliesslich Shop-Betreiber dieses Formats», lobt Coop-Sprecher Jürg Kretzer zurück.

«Wen stört es denn?»

Zufrieden zeigen sich auch die Kunden, die an diesem Sonntagnachmittag auf die Fragen des swissinfo.ch-Reporters vor dem Shop zu antworten bereit sind: «Ich bin flexibler, wenn ich hier sonntags einkaufen kann», sagt der Musiker Rauf Mamedov, der gleich um die Ecke wohnt. Auch Astrid Ahler, die als Gynäkologin oft sehr lange Arbeitstage hat, schätzt es, dass der Shop täglich bis 22 Uhr geöffnet ist.

Obwohl er die ganze Woche Zeit hätte, Einkäufe zu machen, hat sich auch Roger Martin am Sonntag «nur etwas Kleines besorgt». Er hatte früher jahrelang in Paris gelebt und dort auch zu später Stunde beim «Türken oder Araber» einkaufen können. «Die Leute werden ja nicht gezwungen zu arbeiten», meint der Pensionär und fragt: «Wen stört es denn, dass der Laden geöffnet ist?»

Für die Gewerkschaften ist es ein zentrales Problem: «Die grossen Ladenketten, nicht nur Coop, sondern auch Migros, nutzen die Ausnahmeklausel für Familienbetriebe, um die gesetzlichen Schutzbestimmungen für die Beschäftigten zu umgehen», sagt Unia-Sprecherin Eva Geel.

«Was zum Schutz der kleinen Familienbetriebe in den Dörfern eingeführt worden ist, wird jetzt von den Grossbetrieben genutzt, um den Druck auf die Ladenöffnungszeiten zu erhöhen.» Das Modell «Familienbetriebe für Grossverteiler» bezeichnet die Gewerkschafterin als «weiteren Domino-Stein, den man zum Kippen bringen will, um die Ladenöffnungszeiten vollends zu liberalisieren».

«Zur Kasse gebeten wird das Personal»

Dass sich zum Beispiel die Familie Icboyun mit dem Geschäftsmodell identifiziert, stellt Eva Geel nicht in Frage. «Aber es geht nicht um Einzelfälle, sondern um die Auswirkungen für den gesamten Detailhandel.

Zur Kasse gebeten wird letztlich das Verkaufspersonal, das abends und regelmässig auch am Wochenende immer länger im Laden steht und immer seltener gemeinsame Freitage mit Freunden oder der Familie verbringen kann.»

Man müsse sich bewusst sein, dass es um Arbeitsbedingungen am prekären unteren Rand auf dem Schweizer Arbeitsmarkt  gehe. «Die Leute können sich nicht wehren, weil sie auf die Arbeit angewiesen sind.»

Die insgesamt 14 bis 17 Angestellten seiner GmbH hätten alle einen für Coop-Angestellte geltenden Gesamtarbeitsvertrag (GAV), widerspricht Baris Icboyun. Der Grossverteiler habe ihm empfohlen, diese Arbeitsbedingungen wie Mindestlohn, Ferienansprüche und Mutterschaftsurlaub zu übernehmen.

Dass Coop den Franchise-Nehmern die Anwendung des GAV «nur» empfiehlt, genügt der Unia nicht. Mit Empfehlungen gebe sich die Gewerkschaft nicht zufrieden, sagt Eva Geel: «Wir fordern von Coop und allen andern Mutterhäusern, dass die Gesamtarbeitsverträge nicht nur beim eigenen Personal, sondern auch bei den Angestellten ihrer Franchise-Nehmer zur Anwendung kommen.»

Tankstellenshops auf Autobahn-Raststätten sowie an Hauptverkehrswegen mit starkem Reiseverkehr dürfen ihr Geschäft auch in der Schweiz rund um die Uhr öffnen.

Zwischen 01.00 und 05.00 Uhr dürfen sie heute jedoch nur Fertigprodukte wie Kaffee oder Sandwiches anbieten. Das hat zur Folge, dass in dieser Zeitspanne in den Shops ein Teil des Sortiments in den Verkaufsregalen abgedeckt wird.

Der Bundesrat hat anfangs 2012 eine parlamentarische Initiative gutgeheissen, die eine Liberalisierung der Öffnungszeiten von Tankstellenshops fordert.

Künftig soll das ganze Sortiment rund um die Uhr angeboten werden dürfen. Die Gewerkschaften haben angekündigt, dass sie das Referendum ergreifen werden.    

Mit seinen rund 250 Pronto-Shops ist der Grossverteiler Coop die Nummer 1 unter den Tankstellen- und Bahnhof-Shops. Der andere Riese im Detailhandelsgeschäft betreibt rund 170 solcher Shops unter dem Namen «Migrolino». Anfangs Juni hat die Migros-Tochter mit Socar Energy Switzerland (der Betreiber der ehemaligen Esso-Tankstellen) einen Franchise-Vertrag für 55 Tankstellenshops abgeschlossen.

Auch die Spar-Gruppe mischt im wachsenden Convenience-Markt mit. Ende Mai hat sie 45 Tankstellen-Shops der Contashop AG übernommen. 

Die meisten dieser Shops werden von so genannten Franchising-Unternehmern bewirtschaftet.

In einigen Stadtteilen hat Coop seine Pronto-Shops an Grossfamilien übergeben. Für Familienbetriebe gelten in der Schweiz liberalere Öffnungszeiten.

Ist ein Modell für die Zusammenarbeit zwischen einem Franchisegeber und (meistens vieler) Franchise-Nehmern.

Der Franchisegeber stellt in der Regel die Nutzung eines Geschäftskonzepts, eines Produkts, seines Vertriebssystems oder Know-hows gegen Bezahlung zur Verfügung.

Die Franchise-Nehmer sind nicht Angestellte, sondern bewirtschaften das Geschäft als finanziell selbständige Unternehmer.

Der Franchise-Nehmer oder -Partner tritt in die Kette des Franchise-Gebers ein, dessen Produkte oder Dienstleistungen er herstellt und/oder vermarktet und unter dessen einheitliches Erscheinungsbild er sich stellt.

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