Gurlitt: Der transparente Umgang mit dem unbequemen Erbe
Das Kunstmuseum Bern rückt in einer Ausstellung über den Gurlitt-Nachlass die eigene Forschung in den Fokus. Und beleuchtet so das Waten im Minenfeld der Provenienzforschung.
«Bilanz ziehen heisst Rechenschaft ablegen», steht in grossen Lettern an der Wand. In der mittlerweile dritten Ausstellung zur Kunstsammlung Gurlitt geht es denn auch erst in zweiter Linie um die Werke an sich. Sondern vor allem um die Arbeit des Museums an ihnen. Und die gestaltete sich in den letzten acht Jahren Forschungsarbeit als ein Abwägen zahlreicher Unwägbarkeiten juristischer, politischer und nicht zuletzt moralischer Natur.
Der Fall Gurlitt sorgte bei seiner Aufdeckung für grosse Aufregung und setzte breite Diskussionen über den Umgang mit Raubkunst der Nationalsozialisten in Gang.
Zur Erinnerung: Der Kunstsammler Cornelius Gurlitt vermachte 2014 sein Erbe dem Kunstmuseum Bern, zwei Jahre nachdem seine Sammlung, die zu einem grossen Teil von seinem Vater Hildebrand angelegt wurde, in Deutschland medienwirksam konfisziert wurde. In den Medien wurde daraufhin das Bild einer milliardenschweren Sammlung von NS-Raubgut gezeichnet.
Dieses Bild hielt der Wahrheit nicht stand. Letztlich kamen rund 1600 Werke nach Bern, von denen wenige Dutzend als Raubkunst restituiert wurden oder deren Besitzverhältnisse noch in Abklärung sind.
Fragen bleiben jedoch weiterhin offen, was nicht nur damit zu tun hat, dass Gurlitt senior Werke manipulierte, um ihre Herkunft zu verschleiern. Sondern auch weil vieles in den Wirren des Zweiten Weltkriegs unwiederbringlich verloren ging: Dokumentationen, Wissen, Zeugen.
Eine deutsche Geschichte in der Schweiz
Es sorgte für einiges Erstaunen, dass die Werke an das Kunstmuseum Bern vermacht werden sollten. Denn eigentlich handelte es sich um eine typisch deutsche Geschichte: Es ging um den Umgang mit Kunst, die entweder direkt von den Nazis oder zumindest in ihrem Dunstkreis gestohlen oder gehandelt wurden.
Die Fragen nach moralischer Verantwortung und gerechter Restitution waren auch Jahrzehnte nach dem Krieg keineswegs zufriedenstellend beantwortet worden. Und es ging auch um übergeordnete Kunstpolitik, die mit juristischen und politischen Altlasten aus der NS-Zeit in der Bundesrepublik umgehen musste.
Der Schweizer Bezug war jedoch immer da, auch wenn ihn viele nicht wahrhaben wollten. Denn die Schweiz war schon seit jeher ein Drehpunkt im internationalen Kunsthandel, und die Gurlitts verkauften ihre Werke oft über Schweizer Mittelsmänner. Nicht immer war das bedenklich, aber eben auch nicht in jedem Fall unbedenklich.
Das Kunstmuseum Bern hat sich früh dazu verpflichtet, einen transparenten Umgang mit dem Erbe Gurlitt einzuschlagen. Und gründete 2017 die erste Abteilung für Provenienzforschung in der Schweiz.
Dieses Vorgehen setzt mit einem Ampelsystem neue Standards: So sind Werke, deren Herkunft unbedenklich ist, grün markiert. Rot markierte Werke, die eindeutig NS-Raubkunst waren, wurden nicht angenommen. Und dann gibt es die grosse Masse, die gelb-grün markiert ist (deren Provenienz lückenhaft ist, aber keine Belege für Raubkunst vorliegen) und jene Werke, die gelb-rot sind. Bei diesen gibt es Hinweise auf eine problematische Herkunft, ihre Restitution ist in Abklärung.
Mut zur Lücke
Die neueste Gurlitt-Ausstellung ist die logische Konsequenz des transparenten Vorgehens – es ist eine Reflexion und Zurschaustellung der eigenen Arbeit und der Probleme, die dabei in nicht kleinem Masse aufgetaucht sind. Was sich (noch) nicht abschliessend klären lässt, wird denn auch bewusst offengelassen.
Etwa die Person Hildebrand Gurlitt: Als «Mischling zweiten Grades» (er hatte eine jüdische Grossmutter) erlitt er viele soziale Nachteile, auch wenn er damit vor Verfolgung verschont blieb. Er war aber auch einer von nur vier von den Nationalsozialisten beauftragten Kunsthändler, die «entartete Kunst» ins Ausland verkaufen sollten. Viele Werke, die er in seine Sammlung aufnahm, konnte er vor der Vernichtung retten – was ihn aber nicht davon abhielt, sie gewinnbringend zu verkaufen.
Wann ist man Opfer, ab wann Täter? Und wie lässt sich reiner Opportunismus mit rationalem Überlebensinstinkt vereinbaren? Das Leben in einer Diktatur ist immer auch ein Leben im Widerspruch, das zeigt die Ausstellung eindrücklich.
Die Ausstellung «Gurlitt. Eine Bilanz»
Die Ausstellung im Kunstmuseum BernExterner Link dauert vom 16. September 2022 bis zum 15. Januar 2023.
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