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Verantwortung als bester Koch der Welt übernehmen

Franck Giovannini: "Wir kochen nicht für Michelin oder Gault-Millau." Keystone

In der Küche des Restaurants Hôtel de Ville ist ein beharrliches Klicken zu hören. Es dauert eine Weile, bis ich es lokalisiert habe und realisiere: Es kommt vom Starkoch Franck Giovannini.

Das teilweise hektische Klicken eines Kugelschreibers ist der einzige Hinweis auf Adrenalin unter der Oberfläche, ansonsten wirkt der jugendlich aussehende, 42 Jahre alte Küchenchef ganz ruhig. Er lenkt den Mittagsbetrieb in dem Restaurant in einem Vorort Lausannes, das 3 Michelin-Sterne und 19 Gault-Millau-Punkte hat. Im vergangenen Jahr wurde es auf einer neuen französischen Liste als bestes Restaurant der WeltExterner Link bezeichnet.

Was mag es für ein Gefühl sein, wenn man die Verantwortung als Chefkoch in einem Restaurant übernimmt, das als bestes der Welt ausgezeichnet wurde? Und dessen zwei frühere Starköche unerwartet verstorben waren.

Mysteriöser Suizid

Auf die Frage, warum Benoît Violier Suizid begangen habe, erklärten seine Witwe Brigitte Violier und André Kudelski, der Aktionär des Restaurants wiederholt, sie hätten keine Ahnung. Andeutungen des Finanzmagazins BilanExterner Link, dass Violier Opfer eines Betrugs mit Wein geworden und das Restaurant daher Schulden gehabt habe, wiesen sie in aller Deutlichkeit zurückExterner Link.

Kurz vor Violiers Tod war das Hôtel de Ville auf La Liste, einem neuen Ranking des französischen Aussenministeriums, als bestes Restaurant der WeltExterner Link eingestuft worden.

Wie hatte Violier reagiert? «Zur weltweiten Nummer eins gekürt zu werden, war die ultimative Auszeichnung, denn diesen Titel hatte es zuvor nicht gegeben», sagt Brigitte Violier. «Es war das Resultat von 20 Jahren Arbeit. Seit er in der Gastronomie tätig war, hatte er diese Ebene erreichen wollen.» Zum Glück sei es zur richtigen Zeit passiert, so dass er es noch habe erleben können.

Der Suizid von Starkoch Benoît Violier früher in diesem Jahr hatte die Welt der Gastronomie erschüttert und Sorgen darüber ausgelöst, dass es in diesem oft belastenden Beruf erneut zu einem unerwarteten Tod kommen könnte. Violiers Nachfolger Giovannini könnte eine Anomalie sein und zeigen, dass man ein Topchef sein und mit dem Stress einer solchen Position umgehen kann.

Giovannini bewegt sich ruhig, kontrolliert die sorgfältig angerichteten Teller, posiert zwischendurch für Fotos mit Gästen und plaudert in einer anderen Ecke des Restaurants ruhig mit einer Kochklasse.

Auch von der Journalistin, die an einem Ende des Serviertisches sitzt, ein schwindelerregendes Degustationsmenu mit neun Gängen zu sich nimmt und die Interaktionen in der Küche beobachtet, lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Sous-Chefs sind eindeutig zufrieden; ab und zu werfen sie einen ihrer Hüte in die Höhe und fangen ihn wieder auf, manchmal fliegt gar eine Flasche Evian durch die Luft.

Erst wenige Monate sind seit dem traumatischen Sonntag vergangen, als Violier sich mit seinem Jagdgewehr in seiner Wohnung über dem Restaurant erschossen hatte. Sieben Monate davor war Violiers Vorgänger und Mentor Philipp Rochat nach einem Sturz mit dem Fahrrad gestorben. Zudem war das für das Personal im Restaurant nicht die erste Tragödie gewesen. 2002 war Rochats Frau Franziska Rochat-Moser, eine erfolgreiche Marathon-Läuferin, auf einer Bergtour in einer Lawine ums Leben gekommen.

An der Mauer des Restaurants steht noch immer Violiers Name, und im Eingangsbereich findet sich ein Stapel seiner Kochbücher. Eines, zu seiner Spezialität Wild, ist 1086 Seiten lang. Auch Michelin-Führer gibt es hier, in denen das Hôtel de Ville als «Gastronomietempel» bezeichnet wird.

Giovannini hatte schon unter Violier das Menu des Restaurants entwickelt. swissinfo.ch

Die drei Michelin-Sterne kamen unter Violier und den beiden früheren, international geehrten Chefs zusammen, Rochat und Frédy Girardet. Letztere haben in dem Restaurant, in dem bis heute Gerichte serviert werden, die auf die zwei Starköche zurückgehen, legendären Status.

Ausgleich mit dem Privatleben

Giovannini trägt seine weisse Chef-Uniform. Er sieht ein bisschen unbehaglich aus, als er über sich selbst sprechen soll, beantwortet aber tapfer die Fragen. Das Thema, warum Violier Selbstmord begangen haben könnte, umgehen wir. Stattdessen sprechen wir über den Druck, der mit einer solchen Stelle einhergehen kann, jetzt, wo er dies selber erlebt.

Giovanninis ausgewogener Ansatz und sein Humor scheinen zu helfen. Anders als Violier lebt er mit seiner Frau und zwei Kindern etwa eine halbe Stunde Autofahrt entfernt auf dem Land. Werktags arbeitet er von acht Uhr morgens bis Mitternacht, die Wochenenden sind jedoch heilig, Zeit zum Entspannen und Grillieren mit Freunden.

«Ich bin jetzt 21 Jahre hier. Ich habe nicht das Gefühl, dass der Druck zu gross sei. Ich erledige die Dinge, wie ich es als gut empfinde, und bisher sind alle glücklich dabei. Und selber versuche ich, einen guten Ausgleich mit meinem persönlichen Leben zu finden.»

Das heisst aber nicht, dass er in der Vergangenheit nicht auch schon Stress erlebt hat.

Viel Geschrei

Giovannini und Violier hatten zur gleichen Zeit unter Girardet und Rochat im Hôtel de Ville ihre Stelle angetreten. Sie wurden «wie zu Brüdern» und arbeiteten 20 Jahre Seite an Seite.

«Ich wollte immer etwas im Bereich Essen tun», sagt Giovannini. Sein Vater, dessen eigene Träume einer Karriere als Chefkoch geplatzt waren, ermutigte seinen Sohn, in dieses Metier einzusteigen. Nachdem Giovannini eine Zeit lang unter dem Schweizer Chef Gray Kunz in New York gearbeitet hatte, kehrte er in die Schweiz zurück. Hier trat er die Stelle eines Assistenzkochs in der Küche des Hôtel de Ville an, wo er zunächst vor allem Gemüse schneiden musste.

Zuerst habe er diese Stelle nicht wirklich antreten wollen, «weil ich schreckliche Geschichten darüber gehört hatte», lacht Giovannini. Er beschreibt Girardet als «Genie was Essen, Geschmack und Aromen» angeht, der ihn «la rigeur» (Präzision) gelehrt habe. «Ich hatte das Glück, eineinhalb Jahre mit ihm arbeiten zu können, auch wenn es nicht einfach war. Ich war erst 20 Jahre alt und die Atmosphäre schwierig. Man wurde oft angebrüllt.»

«Heute schreien wir nicht mehr. Leute sind oft überrascht, dass Küchen sehr ruhig sind. Persönlich denke ich, dass wir jetzt bessere Resultate erzielen, weil die Leute miteinander reden können, wenn es ein Problem gibt. Wenn es früher Probleme gab, konnte man nicht einfach zu Herrn Girardet gehen, ‹Oh, mein Gott, ich werde Prügel kriegen›, war der einzige Gedanke, den man hatte», sagt Giovannini und lacht wieder.

Und es stimmt, die Küche ist – ausser den Rufen «Service» und dem Scheppern der Pfannen – ruhig.

Präzision ist das Motto in der Küche. swissinfo.ch

Neue Ära

Giovannini hatte unter Violier eng mit diesem zusammengearbeitet; und als Violier 2012 das Restaurant übernahm, leitete Giovannini die Küche.

Für Violiers Witwe, die heute das Geschäft führt, war Giovannini denn auch die offensichtliche Wahl als Chefkoch. «Franck war die erste Person, an die ich dachte», sagt Brigitte Violier. Die beiden Familien seien sich immer nahe gestanden. «Nach Benoît war Franck die Person, die ich im Restaurant am besten kannte.»

Die Frage stellt sich, ob das Restaurant in der neuen Ära seine gastronomischen Bewertungen beibehalten kann. Die Gault-Millau-Punkte werden im Oktober bekannt gegeben, die neue Bewertung von Michelin steht für Februar an. «Wir werden alles tun, um sicherzustellen, dass wir die Sterne nicht verlieren», sagt Brigitte Violier. Und wenn nicht, sinniert sie, «werden vielleicht in der Folge andere Massnahmen ergriffen werden».

Der Tod Violiers, kurz nachdem er zum besten Chefkoch der Welt ernannt worden war, wurde damals mit dem Tod von Bernard Loiseau verglichen, der sich 2003 ebenfalls mit seinem Jagdgewehr erschossen hatte, kurz nachdem er im Gault-Millau-Führer zwei Punkte verloren hatte. Loiseau hatte unter klinischer Depression gelitten, wie später bekannt wurde.

Giovannini räumt ein, dass die Drohung, heruntergestuft zu werden, «natürlich» immer irgendwie im Hinterkopf eines Chefkochs stecke.

«Ich muss zugeben, ich will nicht der erste sein, der nur zwei Sterne hat. Wir kochen nicht für Michelin, aber natürlich denken wir darüber nach, denn das gehört dazu. Wir tun alles, um die Sterne zu behalten. Wir halten die gleiche Qualität aufrecht. Wenn sie entscheiden, uns einen Stern wegzunehmen, wird es nicht eine Frage der Qualität sein, sondern vielleicht einfach Politik.»

Wie wird er damit umgehen können, falls das Restaurant einen Stern verliert? «Man kann nur jeden Tag seinen Job richtig tun, und wir tun es zweimal im Tag», sagt er. Wird Giovanninis Pragmatismus ihm in der bevorstehenden Phase wohl zugutekommen?

Die besten Schweizer Restaurants

Welches Restaurant das Beste ist, hängt vom Bewertungssytem ab, auf das man schaut. Drei Schweizer Restaurants haben heute sowohl die höchste Auszeichnung auf der Michelin-Skala, drei Sterne (steht für eine «aussergewöhnliche Küche»), als auch 19 Punkte bei Gault-Millau (bis 2004 war 19 die höchste Punktzahl, die dieser Führer verlieh): Hôtel de Ville in Crissier, Andreas Caminadas Schauenstein in Fürstenau und Peter Knogls Cheval Blanc in Basel.

Insgesamt sechs Restaurants haben 19 Punkte bei Gault-Millau: Hôtel de Ville, Schauenstein, Cheval Blanc, L’Ermitage de Ravet, Domaine de Châteauvieux, Hotel-Restaurant Didier de Courten.

Haben Sie Stress in Ihrem Beruf? Wie gehen Sie damit um? Schreiben Sie uns hier über Ihre Erfahrungen.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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