«In der Schweiz wären all meine Projekte gestorben»
Lya Elcagu hatte einen Sitz im letzten Repatriierungsflug, der im Frühling 2020 von Buenos Aires in die Schweiz flog. Sie erzählt, warum sie entschieden hat, dennoch in Argentinien zu bleiben.
Lya Elcagu war zu beschäftigt, um die Nachrichten zum Virus richtig einzuordnen. «Es hiess, in Europa grassiere diese Covid-Krankheit. Ich dachte, das würde mal wieder so eine Grippe sein.»
Im Januar und Februar herrscht Hochsaison in der Tangoszene. Dann ist Sommer in Buenos Aires, dann strömen tausende Touristen in die Milongas, die Tangosalons der Stadt. Zuvor frischen sie nochmals ihre Tanzkenntnisse auf, nehmen ein paar Stunden in einer Tangoschule, wo sie sich für die Nächte auf dem Parkett fit machen.
Mittendrin tanzt sie
Sie bereiten sich darauf vor, mit wildfremden Menschen in der intimen argentinischen Tanzhaltung aneinanderzukleben und lassen sich von den melancholischen Tangoliedern einstimmen. Sie tanzen, schwitzen, besonders dann, wenn die Klimaanlage ausfällt, weil das Stromnetz der Stadt für das Kühlungsbedürfnis seiner neun Millionen Einwohner plus Touristen nicht gemacht ist.
Mittendrin tanzt Lya Elcagu, als Lea Schmid in Zürich geboren und heute Tangolehrerin in Buenos Aires. Neun Jahre wohnt die 38-Jährige nun dort. Sie arbeitete bei der bekannten Tangoschule DNI Tango, wo sie mit ihren Schuhen, acht Zentimetern Absatz, vor dem Spiegel zeigte, wie man sich zu drehen hat und wo der Fuss danach stehen muss. «Alle 18 Lehrer waren ausgebucht und arbeiteten bis 13 Stunden pro Tag», erinnert sie sich.
Alle reisten ab, sie blieb
Dann überstürzten sich die Ereignisse. Argentinien kündigte an, die Grenzen zu schliessen. Innert einer Woche reisten alle Touristen ab. Damit war der grösste Teil der Schüler weg, die Unterrichtsräume geleert. Doch bald war Gruppenunterricht ohnehin nicht mehr erlaubt. «Wir sehen uns nach dem Lockdown», hatte sie ihren Schülern gesagt. Sie dachte, es würde sich um ein paar Wochen handeln.
Doch die ersten Lockerungen kamen erst, als im September 2020 der Frühling einkehrte. Die zweite Welle schlug im April dieses Jahres ein. «Im Moment geht gerade langsam alles erneut auf», sagt Lya Elcagu. «Zumindest jene Tangosalons und Schulen, die nicht bankrottgegangen sind.»
Bauchtanz in Buenos Aires
Ursprünglich war die gelernte Sozialarbeiterin nicht des Tangos wegen in die Millionenstadt am Rio de la Plata gekommen. Ausgerechnet der orientalische Tanz hatte sie in ihre künftige Heimat gelockt. Diesen hatte sie in der Schweiz intensiv praktiziert. 2012 nahm sie sich eine Auszeit von ihrer Arbeit als Berufsintegrationscoach, um bei der argentinischen Bauchtanz-Koryphäe Saida Helou Unterricht zu nehmen. «Und schon einmal in der Stadt, nahm ich auch ein paar Tangostunden.»
Damit wars um sie geschehen. Nicht nur verliebte sie sich in den Tanz, sie fand sich auch in einer Gesellschaft wieder, in der sie sich ermutigt fühlte, die Künstlerin in sich aufleben zu lassen. «Es wird dir hier nichts geschenkt und für den kreativen Bereich ist das ein Nährboden, denn die Kreativität entsteht dort, wo man zum Handeln gezwungen wird», sagt sie.
Lya Elcagu blieb, arbeitete zuerst in einer deutschen Firma, nahm viele Tangostunden, kam bei DNI Tango zuerst hinter den Verkaufstresen des Tangoshops, dann vor die Schüler.
«Ich schaffte es nicht, zu gehen»
Als die Tangoschulen wegen Covid schlossen und ihre Einkommensquelle versiegte, entschied sie sich nach einigem Grübeln für den sicheren Schoss des Heimatlands. Sie erhielt einen Sitz im letzten Repatriierungsflug gen Schweiz. Als dieser abhob, sass sie jedoch nicht drin. «Ich schaffte es nicht, wegzugehen. Hier sind meine Wohnung, meine Freunde – mein Leben spielt sich hier ab», sagt sie.
Und noch etwas hielt sie vom Heimflug ab. Ihren kreativen Beruf hätte sie vorerst an den Nagel hängen müssen. «Erst die Ämtertour über Sozialamt und Arbeitsvermittlung, das Bestreiten der Kosten, der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben – Tango wäre da für lange Zeit nicht drin gelegen.» Zudem war ihr Kopf voller Ideen für neue Tangoprojekte. «In der Schweiz wären diese gestorben.»
Die Hölle der Inflation
So blieb sie in Buenos Aires. Im Wissen, dass sie damit gleich zwei Feinden die Stirn bieten musste. Denn durch die lahmgelegte Wirtschaft verschärfte sich auch ein seit Jahrzehnten grassierendes Übel: die argentinische Inflation. Weil sich die argentinischen Präsidenten seit Generationen immer wieder Kredite geben lassen, sinkt die Glaubwürdigkeit der Währung laufend.
Der argentinische Peso fällt praktisch täglich, die Preise steigen entsprechend an. Und Importgüter, wie kabellose Kopfhörer oder eine Internetkamera, die Lya Elcagu brauchte, um auf Onlineunterricht umzustellen, sind speziell teuer. «Nicht alle Tangolehrer können sich das leisten», sagt sie.
Ein Sparpolster für schlechte Tage anlegen? Wie, wenn dieses in einem Jahr kaum noch Wert hat? «Die beste Art zu sparen ist in Dollars», weiss die Schweizerin. Doch weil der Dollar bei den Argentiniern unschätzbaren Wert geniesst, kann man ihn nur zu einem weit überhöhten Kurs kaufen.
Argentiniens Tango blutet
«Wie viele Menschen vom Tango abhängig sind, kann man gar nicht zählen», sagt Lya Elcagu. «Es sind nicht nur Tänzerinnen und Tanzlehrer. Da sind Verkäuferinnen von Tanzschuhen, Salonbetreiber, Musikbands, Licht- und Soundtechniker und Fotografen.» Die Branche rief Richtung Präsidentenpalast, der Casa Rosada. Präsident Alberto Fernandez, ein Linkspopulist, machte aber erst nach ein paar Monaten Geld locker.
Besonders viel sei das nicht gewesen, sagt die Schweizerin, die dank ihres Onlineunterrichts nicht auf staatliche Gelder angewiesen war. «Vertreter der Tangobranche mussten zudem monatelang über Schutzkonzepte verhandeln. Monatelang blockiertes Einkommen für eine Branche, die sonst aus Aushängeschild hochgelobt wird und Devisen ins Land bringt.»
Berge von Schulden
Die Verteilung staatlicher Gelder sei für Argentinien sehr schwierig, erklärt Makroökonome Mathias Rainermann von der Wirtschaftsberatungsfirma Ecolatina. «Andere Länder machen hierfür Schulden, doch Argentinien hat so viele Schulden, dass es nirgends mehr Schulden machen kann.» Um Unternehmen und Selbstständigerwerbenden finanzielle Unterstützung zu bieten, griff Präsident Fernandez auf das Mittel zurück, das schon bisher Hauptgrund für die Inflation ist. «Die einzige Möglichkeit war, das nötige Geld zu drucken», sagt der Experte.
«Um der Wirtschaft unter die Arme zu greifen, wurde eine Rekordsumme an Geld gedruckt.»
Entsprechend steil wurde die Inflationskurve, das Geld der Argentinier verlor noch schneller an Wert.
Um trotzdem über die Runden zu kommen, macht es Lya Elcagu wie die Argentinier: tauschen statt kaufen. Der Techniker repariert ihren Laptop für eine Yogastunde, die neuen Kleider sind meist die aussondierten einer Freundin, die dafür Kleider von Lya bekommen hat.
Tango gegen die Einsamkeit
Und dann war da noch eine Krise, die Elcagu beobachten konnte. Tanzt man die Übungen der Lehrerin im Wohnzimmer nach, gibt es kein Gegenüber, keine Berührungen und keine Begegnungen. «Es gibt Menschen, die wählen den Tango, weil sie sich einsam fühlen. Gerade diesen Menschen geht es im Lockdown noch schlechter.»
Doch aus der Not entstand Solidarität. Der Verein Trabajadores de tangodanza verteilt seit März 2020 Essenspakete, finanziert von Spenden. Und auch von den tangohungrigen Touristen, die sonst in die Stadt strömen, wurden die Tangueros und Tangueras nicht vergessen. Es wurden Wohltätigkeits-Milongas veranstaltet und der Erlös nach Argentinien geschickt.
Jetzt, eineinhalb Jahre nach Ausbruch von Covid, ist Lya Elcagu in die Schweiz gekommen, auf Besuch. Sie wird im September und Oktober in Europa Tangokurse geben.
Im Flugzeug zurück nach Buenos Aires, sagt sie, werde sie danach garantiert drinsitzen.
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