Islam der Offenheit, der Unnachgiebigkeit oder der Nuancen?
Ist der Islam eine Religion des Friedens oder des Kriegs? Die Antwort auf diese Frage hängt – nach den Attentaten von Paris – mehr denn je vom Lager ab, in dem man sich befindet. Was sagt der Koran zu diesem Thema, und wie muss man ihn verstehen? Serdar Kurnaz, Co-Direktor am Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg, versucht ihn zu entschlüsseln.
Mit 27 Jahren teilt er mit seinem Kollegen Hanjörg Schmid, christlicher Theologe, die Direktion des SZIG. Diese neue und einmalige Struktur in der Schweiz, die der theologischen Fakultät der Uni Freiburg angegliedert ist, bietet aktiven Imamen in der Schweiz Ausbildungskurse und führt verschiedene Forschungsprojekte im Bereich des interreligiösen Dialogs durch.
Serdar Kurnaz hat türkische Wurzeln, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Bevor er sich an der Goethe-Universität in Frankfurt vertieft mit der muslimischen Theologie auseinanderzusetzen begann, war er als Imam tätig. In Frankfurt hat er festgestellt, dass das, was er zuvor in der Moschee gelernt hatte, «nicht die einzige Antwort auf die Fragen der deutschen Muslime ist». Heute bemüht er sich, auf die Fragen der Schweizer Muslime zu antworten.
swissinfo.ch: Was war Ihre erste Reaktion, nachdem Sie von den Anschlägen in Paris gehört hatten?
Serdar Kurnaz: Ich war natürlich schockiert. Wie viele andere Leute verfolgte ich mit Freunden an jenem Abend am Fernsehen das Fussball-Länderspiel Frankreich-Deutschland. Wir waren empört. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
swissinfo.ch: Die Muslime sagen einmal mehr, dass diese Anschläge nichts mit dem Islam zu tun hätten. Aber das genügt nicht mehr. Was kann man zusätzlich sagen?
S.K.: Ich bin einverstanden. Zu sagen, «das dies nichts mit dem Islam zu tun hat», hilft das Problem nicht lösen. Genauso falsch und unüberlegt ist es zu behaupten, «dass es mit dem Islam etwas zu tun hat». Die Tatsache, dass man solche Dinge tun kann, indem man sich auf den Islam beruft, verpflichtet uns, zu zeigen, dass man den heiligen Text anders verstehen kann. Der Islam ruft dazu auf, niemandem Leid anzutun und in Harmonie zu leben.
Natürlich hat es auch Passagen im Koran, die als Aufruf zu Gewalt gelesen werden können, aber man muss sie im historischen Kontext verstehen. Die Sure 9 ist zum Beispiel in einem kriegerischen Zusammenhang erschienen, aber sie ist kein Aufruf zum Krieg in normalen Zeiten. Wenn man sie so versteht, merkt man, dass diese Leute, die sich auf den Islam berufen, um terroristische Anschläge zu verüben, den Koran nicht korrekt lesen, sondern versuchen, ihre Ideologie durch die Religion zu legitimieren. Das ist inakzeptabel.
Und vergessen wir nicht, dass diese Leute nicht nur in Europa morden, sondern auch in Ländern, wo mehrheitlich Muslime leben.
Ich will die Morde in Paris keineswegs verharmlosen, aber was sich dort zugetragen hat, geschieht jeden Tag in anderen Ländern. Man muss sich hüten, die Dinge zu vermischen, sonst tut man genau das, was die Terroristen wollen. Man muss Hand in Hand antworten und zusammen kämpfen.
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swissinfo.ch: Zurück zum Koran: Im Unterschied zu den Juden und Christen, die sich auf überlieferte Worte Jesus oder der Propheten beziehen, gehorchen die Muslime direkt den Worten Gottes. Das heisst, dass man eine Diskussion über die Interpretation im Prinzip nicht einmal in Erwägung ziehen darf…
S.K.: Das sagen diese radikalen Gruppen: dass man den Koran wortwörtlich verstehen müsse, weil man es zu Zeiten des Propheten so verstanden hat. Das ist ihr Hauptargument. Und wenn man es mir auftischt, richte ich es jeweils gegen sie. Denn, seit dem Tod des Propheten hat man damit begonnen, den Koran zu interpretieren, weil die historischen Umstände sich änderten.
Der Koran gibt eine Richtung vor, aber man muss seine Gebote den neuen Situationen anpassen. Oft kennen die sogenannten Traditionalisten die Tradition nicht gut. Sie geben vor, an die Quelle zu gehen, aber das scheint mir eine Illusion zu sein. Denn die Tradition zeigt selber, dass es eine gewisse Dynamik gibt. Was im wahrsten Sinn des Wortes genommen werden muss, sind die göttlichen Aktionen. Sie bestimmen die Beziehungen zwischen Gott und Mensch, nicht zwischen Mensch und Mensch.
swissinfo.ch: Der Koran wurde während mehr als 20 Jahren zwischen Mekka und Medina offenbart. Die Mekkanischen Suren legen die Grundsätze des Glaubens und der Beziehungen zwischen Gott und Mensch fest, während die Medinesischen Suren die Basis des muslimischen Gesetzes enthalten, in denen viel von Strafen an jenen die Rede ist, die sich nicht an die Gebote halten. Wenn sich zwei Verse widersprechen, setzt der jüngere den älteren ausser Kraft. Die «strengen» Gebote der medinesischen Periode haben also die toleranten Gebote der mekkanischen Periode widerrufen. Ist das nicht ein Problem heute?
S.K.: Diese Frage wurde schon im 14. Jahrhundert von Ash Shâtibî, einem andalusischen Gelehrten aufgeworfen. Laut ihm gibt es zwischen den Suren der beiden Epochen keinen Aufhebungs-Zusammenhang. Die Mekkanischen Suren halten die Grundsätze fest, und die Medinischen erklären ihre Anwendung. Das heisst, dass uns der Koran zeigt, wie wir die Grundsätze für neue Fälle ableiten können, und dass er immer auf dynamische Art verstanden werden kann.
Dieses Prinzip des Ausserkraftsetzens ist unter muslimischen Gelehrten immer noch umstritten. Für viele unter ihnen gibt es überhaupt keine Ausserkraftsetzung. Jeder Vers entspricht einer spezifischen Situation, einem eigenen historischen Kontext, weshalb sie sich nicht widersprechen und gegenseitig ausser Kraft setzten können. So sehe ich es auch.
swissinfo.ch: Das ist ziemlich kompliziert, zumal der Text des Korans gesamthaft nur auf arabisch verstanden werden kann. Was glauben Sie, wie viele unter den mehr als 1,5 Milliarden Muslimen dieser Welt, von denen mindestens zwei Drittel arabischsprachig sind, haben den Koran gelesen und verstanden?
S.K.: Das kann ich natürlich nicht sagen, aber ich kann bestätigen, dass sich der Koran nicht wie ein Roman liest. Es ist ein Text, der von Auslassungen spricht, die sich auf historische Ereignisse beziehen, ohne diese zu zitieren. Um sie richtig zu verstehen, muss man Hilfe bei weiterer Literatur, bei Kommentaren und Schriftauslegungen holen. Und weil tatsächlich die Mehrheit der Muslime nicht arabisch spricht, ist es die Rolle der Imame und Gelehrten, den Text des Buches zu erklären.
swissinfo.ch: Apropos Imame. Ihr Zentrum ist keine theologische Fakultät, aber es bietet eine Weiterbildung an. Für Leute, die in der Schweiz predigen wollten, ist sie laut Ihnen unumgänglich.
S.K.: Genau. Wenn sie im Ausland eine bestimmte Ausbildung gemacht haben, ist es gut, dass sie hier eine Weiterbildung absolvieren. Sie müssen die Probleme und die Situation in der Schweiz kennen, um Lösungen vorschlagen zu können, die hier praktikabel sind.
swissinfo.ch: Wie definieren Sie die Praktiken des Islams in der Schweiz: streng, moderat oder etwas dazwischen?
S.K.: Ich bin noch neu in diesem Land. Ich kann mich dazu noch nicht äussern. Aber ich weiss, dass die Mehrheit der Muslime in der Schweiz nicht fundamentalistisch orientiert ist. Ich wäre aber vorsichtig mit dieser Einteilung zwischen «moderat» und «streng». Sie gleicht zu sehr einem «Schwarz-Weiss-Muster», dem ich immer misstraue.
Aufgrund meiner Erfahrung in Deutschland kann ich sagen, dass die meisten Muslime in Europa mit den europäischen Werten leben können, dass sie damit sogar zufrieden sind, insbesondere mit der Religionsfreiheit, von der sie profitieren und die sie sehr unterstützen. Es ist falsch zu denken, wie ich es auf der Strasse höre, dass ein Gläubiger zwangsläufig fundamentalistisch sei. Meine Familie ist gläubig, ich bin gläubig, und ich habe keine Probleme, Europäer zu sein. Ich bin Deutscher, Europäer und gleichzeitig Muslim.
swissinfo.ch: Die Muslime der Schweiz sind mehrheitlich wenig praktizierend. Werden sich – nach den Kirchen – auch die Moscheen entleeren?
S.K.: Man müsste zuerst definieren, was unter «praktizierend» zu verstehen ist. Wenn Leute gemeint sind, die beten und das Fasten des Ramadan vollziehen, denke ich, dass diese Praktiken nicht auf dem Rückzug sind. Aber ich würde den Begriff «praktizierend» auf das Verhalten ausweiten: herzlich, barmherzig, gewissenhaft sein, einen Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft leisten – auch dies sind Werte des Islams.
Der Islam kann sich verschiedenen Kontexten anpassen, das hat er immer getan. Hier ist die Moschee eher ein religiöses Kulturzentrum. Und in der Schweiz hat es zahlreiche aktive muslimische Vereine, die den Dialog oder die soziale Arbeit pflegen. Dadurch werden europäische Werte anerkannt, die sich mit den Werten des Islams harmonisieren. Muslime, die diesen Werten zustimmen, sind bei weitem zahlreicher als die Fundamentalisten.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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