«Es gibt nichts Schrecklicheres als ethnischen Hass»
In der Region Berg-Karabach hält die Waffenruhe, aber der kurze Krieg, der im letzten Herbst tobte, wirft einen langen Schatten. Die Diaspora der in der Schweiz lebenden Aserbaidschaner und Armenier ist aufgewühlt.
Das Schicksal ethnischer Auseinandersetzungen ging an der transkaukasischen Region nicht vorbei, wo vor über 30 Jahren der erste Karabach-Krieg ausbrach. Es war der einzige Krieg in der ehemaligen Sowjetunion, an dem die Unionsrepubliken Aserbaidschan und Armenien direkt beteiligt waren.
Letztes Jahr ist der Konflikt um Berg-Karabach neu aufgeflammt, im Herbst kam es zu militärischen Aktionen. Bis die Staatsoberhäupter der beiden Nachbarländer den Konflikt unter internationaler Vermittlung beilegen konnten. Zur Ruhe gekommen ist die Region aber nicht. In Armenien sind im Nachgang innenpolitische Unruhen ausgebrochen, die bis heute andauern.
In Basel gestrandet
Der zweite Karabach-Krieg und die Unruhen rütteln auch die Diaspora auf. Aserbeidschanische Flüchtlinge aus Berg-Karabach und Umgebung wurden vor drei Jahrzehnten auf der ganzen Welt verstreut, in kleiner Zahl auch in die Schweiz. Wie Shamshir A. und Latschin M. Die beiden Wahlbasler erzählen offen von ihrem Schicksal. Über das, was sie durch die Auswanderung verloren und während eines Vierteljahrhunderts in der Schweiz erreicht haben.
Shamshir A. hatte mit seiner Familie gerade ein neues Haus gebaut, als der Krieg ausbrach. Die Einweihungsparty war schon vorbereitet. «Wir wurden alle zu Flüchtlingen, verloren unseren Besitz, unser Land», sagt er. Der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbeidschanern reiche tief. Immer wieder sei er im 20. Jahrhundert aufgeflammt. «Wahrscheinlich gibt es in unserem Land nichts Schrecklicheres als den ethnischen Hass.»
Berg-Karabach ist eine administrativ-territoriale Einheit, die während der Sowjetzeit zu Aserbaidschan gehörte. In dieser Zeit hat Armenien wiederholt die Forderung gestellt, Berg-Karabach unter seine Jurisdiktion zu stellen, erhielt aber nicht die Unterstützung der Unionsführung.
Am 12. Juli 1988 verkündete der Regionalrat von Berg-Karabach seine Abspaltung von Aserbaidschan. Die selbsterklärte Republik mit ihren rund 147’000 Einwohnern auf 4,4 Tausend Quadratkilometern wurde von keinem UN-Mitgliedstaat anerkannt, auch nicht von Armenien, obschon die überwiegende Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner Armenier sind.
Im September 1988 kam es zu bewaffneten Zusammenstössen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, die sich zu einem langwierigen Konflikt entwickelten. Anfang 1990 begannen an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze Kämpfe mit Artillerie, schweren Panzern und Flugzeugen. Historiker sehen in dem Konflikt auch einen Vorboten des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums, das damals seine letzten Monate erlebte sowie einen Massenexodus von Flüchtlingen.
Nach Angaben der UNO waren mehr als 600’000 Menschen (meist Aserbaidschaner) gezwungen, ihre Heimat aufgrund des ersten militärischen Konflikts um Berg-Karabach zu verlassen. Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge blieb in Aserbaidschan, nur einige wenige verteilten sich in der ganzen Welt.
Latschin M. stammt aus der gleichnamigen aserbaidschanischen Stadt, die durch den „Latschin-Korridor“ bekannt wurde. Anfang der Neunzigerjahre war er Student an der Fakultät für Architektur der Universität Baku und überzeugt, dass der Internationalismus ein selbstverständlicher Wert des multinationalen Sowjetimperiums sei. „Mein Ur-Ur-Grossvater kam aus dem Iran. Meine Grossmutter aus der Ukraine», erzählt er. Sie hätten alle glücklich gelebt, ohne ethnische Konflikte.
Latschin erinnert sich, dass er im zweiten Jahr seines Studiums war, als er einen Anruf von seinem Vater erhielt: Die Armee des benachbarten Armeniens rücke an. „Ich habe weder Armenier noch Russen jemals als Feinde betrachtet. Aber ich konnte nicht gleichgültig bleiben, und so ging ich im ersten Karabach-Krieg als Freiwilliger zum Militär, um meine Heimat gegen die Besatzer zu verteidigen.»
Am 18. Mai 1992 wurde Latschin schwer verletzt und per Hubschrauber in die Hauptstadt Aserbaidschans evakuiert. „Eine Granate war eineinhalb Meter von mir explodiert. Die linke Seite meines Körpers war komplett gelähmt,“ erinnert er sich. Schrapnellwunden hatten 17 Sehnen im Oberschenkelbereich beschädigt. Röntgenaufnahmen ergaben später, dass 63 Körner des Metalls in den Muskeln des linken Oberschenkels verblieben.
Eine Operation hätte zu einer vollständigen Invalidität führen können. Die Fragmente blieben darum in seinem Körper – eine schreckliche Erinnerung an den ersten Karabach-Krieg, der nach Schätzungen auf aserbaidschanischer Seite mehr als 4000 und auf armenischer bis zu 6000 Menschenleben gekostet hat.
Igor aus Baku
Auch Igor, ein Armenier, der aus der Hauptstadt Aserbaidschans stammt und heute in Bern lebt, hat die Folgen des aserbaidschanisch-armenischen Konflikts in den frühen 1990er Jahren persönlich erlebt. Bis er 29 Jahre alt war, hat er in Baku gelebt. «Ich träume heute noch davon, weil ich die Stadt meiner Kindheit liebe.»
Jedes Jahr, an den Tagen zwischen 13. und 20. Januar, bleibt er für sich – es sind die Daten, die sein Leben in zwei Teile teilen. Das Schicksal der heimatlos gewordenen aserbaidschanischen Flüchtlinge aus Karabach wurde von rechtsradikalen Gruppen der «Volksfront» Aserbaidschans ausgenutzt, um gross angelegte anti-armenische Aktionen zu organisieren.
Er erinnert sich: „Der 13. Januar 1990 fiel auf einen Sonntag. An diesem kalten Morgen wurde meine Heimatstadt in Alarm versetzt. Meine Nachbarn, die mich gewarnt hatten, dass im Stadtzentrum eine grosse Kundgebung von Nationalisten stattfinde, brachten mich auf ihrem Dachboden in Sicherheit. Meine Mutter versteckten sie in der Garage, in der Inspektionsgrube des Autos. Unsere Nachbarn waren beide Aserbaidschaner und Gegner der Volksfront.“
Zu dieser Zeit war die kommunistische Nomenklatura bereits dem Untergang geweiht. Der Zynismus lag darin, dass die Nationalisten die multinationale Stadt zwei Tage lang ins Chaos stürzten. 40 bis 90 Armenier und auch einige Aserbaidschaner wurden, so die Schätzungen, Opfer des Konflikts. Der Einmarsch sowjetischer Truppen am 20. Januar setzte den Ereignissen in Baku, die heute gemeinhin als Schwarzer Januar bezeichnet, ein Ende.
Am 27. September 2020 flammte der seit drei Jahrzehnten eingefrorene Konflikt um Berg-Karabach wieder auf. Die militärische Konfrontation war heftig, forderte in sechs Wochen über 5000 Tote. Am 10. November legten die Streitparteien den Konflikt bei, nachdem sie ab Ende Oktober in Genf unter der Schirmherrschaft der Minsk-Gruppe der OSZE verhandelt und unter Vermittlung Russlands zu einem Waffenstillstandsabkommen gefunden hatten.
Gemäss den Bedingungen des Abkommens werden die Stadt Schuscha und andere in den frühen 1990er Jahren verlorene Gebiete an Aserbaidschan zurückgegeben. Armenien wird ein Transportkorridor nach Karabach garantiert, und Aserbaidschan wird ein ähnlicher Korridor zur Exklave Nachitschewan zugesichert.
Wo beginnt das Heimatgefühl?
Seit drei Jahrzehnten leben sowohl Shamshir als auch Latschin und Igor mit der Hoffnung auf einen Besuch ihrer Heimat – oder mehr. Latschin will sogar zurückwandern. Für sein Haus, das er auf dem Land seiner Vorfahren bauen will, hat er bereits einen Entwurf ausgearbeitet. „Ich werde meinen Lebensabend in meiner Heimat verbringen. Und ich bin sicher, dass neben mir Armenier, Georgier und Russen leben werden. Ich träume davon, dass ich armenische Lepeschka, georgisches Schaschlik und russischen Kwas auf meinem Tisch haben werde. Alle Völker des Kaukasus sitzen im selben Boot.» Und er fügt hinzu: „Ich habe eine Tante, die Armenierin ist, sie wurde in Baku geboren. Ihre Söhne sind wie Brüder für mich. Kein Krieg kann unsere Familienbande zerstören.“
Die Auswanderung war für diese drei Männer ein Schicksalsschlag. Aber sie haben sich auch in ihrem Zufluchtsland einen «Platz unter der Sonne“ gesucht. «An meinen Arbeitsplatz als Tischler habe ich mich Jahren gewöhnt. Natürlich war es nicht einfach, mein Architektendiplom ‹wegzulegen'», sagt Latschin, seufzt und macht eine Pause. „Wie auch immer die Schicksalswende aussieht, die Emigration bietet eine ideale Gelegenheit zur Selbstreflexion.“
In der Emigration habe er viel Zeit damit verbracht, Häuser zu projektieren. Das Zeichnen wurde zu seinem Hobby. Die einst blühenden Städte und Dörfer in seiner Heimat liegen seit dem Ende des zweiten Karabach-Krieges in Trümmern. «Als Architekt», sagt Latschin, «werde ich immer bereit sein, beim Wiederaufbau zu helfen.“
Auch Igor stand vor dem Problem, dass sein Diplom und seine Erfahrung als Linienpilot in der Schweiz nicht anerkannt wurden. Von seinen ersten Tagen an hat er sich geschworen, niemals Sozialleistungen zu beziehen: «Es war manchmal sehr schwer zu überleben, aber es hat mich nur stärker gemacht. Ich musste für eine Umzugsfirma arbeiten und habe manchmal nicht genug verdient, um meine Familie zu ernähren. Aber es war es wert, Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten zu haben. Ich erkannte, dass der Schritt in ein neues Leben – eines, das vielleicht schwer zu betreten ist – auch eine Chance ist.“ Vor ein paar Jahren fand er einen Job bei der Post, was die finanzielle Situation der Familie stabilisierte.
Shamshir arbeitet in der kleinen Werkstatt seines Schwiegersohns, brütet aber auch sein eigenes Projekt aus. Sein Ziel ist es, ein aserbaidschanisches Café in Basel zu eröffnen. «Ich möchte die Küche meines Volkes hier bekannt machen.» Gleichzeitig hoffe er, dass Karabach für seine Kinder ein «kleines Mutterland» bleiben werde. «Ich habe immer noch die Bilder der Bergketten, der klaren Flüsse und fruchtbaren Täler vor Augen.“
Shamshir und Latschin, die Aserbaidschaner aus Karabach, und Igor, der ein Armenier aus Baku, sind sich einig: die Schweiz mit ihren vier Landessprachen und ihrer hoch gehaltenen Demokratie ist als Völkergemeinschaft ein Vorbild. Historisch gesehen haben weder die Aserbaidschaner noch die Armenier eine andere Alternative, als friedlich mit ihren Nachbarn zu leben. Die einfachen Leute in den Bergdörfern von Karabach haben viel Leid erfahren und hoffen auf einen ethnischen Frieden und eine lebenswerte Zukunft.
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