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Den Vertrag nur ritzen, um die EU zu besänftigen?

Wenn man Arbeitskräften im Inland den Vorrang gebe, sei dies für die EU eine indirekte Diskriminierung der anderen Staatsangehörigen, sagt Christa Tobler. Keystone

Die Schweiz tut sich schwer mit der Suche nach einem Gesetz für die Umsetzung der "Initiative gegen Masseneinwanderung", weil das Volksbegehren das Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU verletzt. Aber die Zeit drängt. In diesen Tagen debattiert eine vorberatende Kommission verschiedene Lösungsvorschläge. Eine Taktik scheint zu sein, den Vertrag nicht zu verletzen, sondern nur zu "ritzen", damit die EU die Umsetzung duldet. Ob sich damit der gordische Knoten lösen lässt? Christa Tobler, Rechts-Professorin am Europa Institut der Uni Basel, glaubt nicht daran.

swissinfo.ch: Nachdem das Schweizer Stimmvolk am 09. Februar 2014 die ‹Initiative gegen Masseneinwanderung› angenommen hatte, sagten Sie voraus, dass die Schweiz auf einen Vertragsbruch mit der EU zusteuere. Sehen Sie das immer noch so?

Begrenzter Inländer-Vorrang

Eine Umsetzung im «Sinn und Geist» der Initiative, aber nicht nach dem Wortlaut. Das ist der Leitfaden eines Modells, das von den Vertretern der Kantone unterstützt wird. Um die bilateralen Verträge mit der EU nicht zu gefährden, wollen die Kantone um jeden Preis eine Lösung mit Höchstzahlen und Kontingenten verhindern, wie sie der Bundesrat in seinem Gesetzesentwurf ans Parlament weitergeleitet hat. Das Modell orientiert sich an einer bestehenden, jedoch nicht genauer definierten Schutzklausel im Personenfreizügigkeitsabkommen: Ist die Schweiz im Vergleich zum EU/Efta-Raum mit einer überdurchschnittlichen Nettoimmigration konfrontiert, soll ein Kanton einen Inländervorrang einführen können, sofern er auch im kantonalen Vergleich von einer überdurchschnittlichen Zuwanderung sowie einer überdurchschnittlich schlechten Entwicklung der Arbeitslosigkeit oder der Löhne betroffen ist. 

Christa Tobler: Ja. Die Verfassungsbestimmung lässt sich nicht umsetzen, ohne den Vertrag mit der EU über die Personenfreizügigkeit zu brechen.

swissinfo.ch: Viel Kredit bekommt derzeit ein Umsetzungsmodell, das unter der Leitung des ehemaligen Staatssekretärs und ETH-Professors Michael Ambühl entwickelt wurde. Es sieht vor, die Zuwanderung mit einem Inländervorrang zu steuern (Vgl. rechte Spalte). Ist dieses Modell mit der Personenfreizügigkeit kompatibel?

Ch.T.: Nein. Das weiss Herr Ambühl natürlich auch. Er hat eine Lösung gesucht, die einerseits dem Stimmvolk signalisieren will, dass etwas gegen die Zuwanderung getan wird, und die andererseits den Vertrag mit der EU möglichst wenig verletzen würde. Dies in der Hoffnung, dass die EU dies zwar nicht rechtlich, aber hoffentlich politisch schlucken würde.

Das Wesentliche am Modell ist der sogenannte «begrenzte Inländervorrang». Aber wenn man den Arbeitskräften im Inland den Vorrang gibt, dann ist dies aus EU- und bilateralrechtlicher Sicht eine indirekte Diskriminierung der anderen Staatsangehörigen.

swissinfo.ch: Das Modell ‹Ambühl› stützt sich aber auf einen Passus im bilateralen Abkommen…

Ch.T.: Diese Klausel hält fest, dass man bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Schwierigkeiten ein bestimmtes Verfahren anwenden könne. Aber wie definiert man «schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten». Herr Ambühl schlägt vor, dass wenn die Schweiz eine bestimmte Höhe der Zuwanderung bzw. der Arbeitslosigkeit erreicht hat, diese Schwierigkeit automatisch gegeben sei. Aber dies müsste die EU zuerst noch schlucken. Im internationalen Vergleich sieht es nämlich wirklich nicht so aus, als ob die Schweiz schwerwiegende Schwierigkeiten hätte.

Europarechts-Expertin Christa Tobler. Keystone

Aber selbst, wenn die EU dies akzeptieren würde, stellt sich die Frage, welche Massnahmen danach im Rahmen dieses Artikels ergriffen werden dürften. Fazit: Das Modell ist rechtlich nicht konform mit dem geltenden bilateralen Abkommen, selbst wenn es von der EU-Politik geschluckt werden sollte.

swissinfo.ch: Recht und Politik sind oft zweierlei Dinge?     

Ch.T.: Aber selbst, wenn die Politik beidseitig darauf eingehen würde, ist fraglich, wie weit es in der Praxis zum Tragen käme. Wenn die Schweiz eine solche einseitige Lösung einführen würde und jemand eine Stelle wegen des Inländervorrangs nicht erhält, kann diese Person letztlich bis ans Bundesgericht gelangen. Das Bundesgericht hat klar gesagt, dass es ein Gesetz nicht anwenden werde, das nicht mit dem Abkommen in Einklang stehe.

swissinfo.ch: Also ist nach wie vor keine Lösung in Sicht. Wie könnte es weiter gehen?

Ch.T.: Ich kann jetzt die Seite wechseln und argumentieren: Die Schweiz versucht, eine Lösung zu finden, um irgendwie aus dem Dilemma zu kommen. Die Taktik scheint dabei zu sein, das Abkommen möglichst wenig zu verletzen. Dabei hat sich ein Unwort eingeschlichen, nämlich, dass das Abkommen nicht verletzt, sondern nur «geritzt» werde. Das ist rechtlich gesehen Unsinn. Entweder wird ein Vertrag verletzt oder nicht verletzt. Politisch ist aber die Idee die, dass die EU nicht gleich laut aufjaulen werde, wenn das Abkommen nur «geritzt» würde, und man die EU soweit bringen könnte, dass sie dieses «Ritzen» dulden und nichts dagegen unternehmen würde.

swissinfo.ch: Auch wenn das Modell von allen Seiten akzeptiert würde: Die Zuwanderung liesse sich damit nicht wesentlich bremsen?

Ch.T.: Das ist so. In der Verfassung heisst es ja, dass die Zuwanderung mit Kontingenten, Höchstzahlen und auf dem Arbeitsmarkt mit Schweizer-Vorrang gelenkt werden soll. Das jetzt diskutierte Modell nimmt aber nur noch ein Element heraus, nämlich den Schweizer-Vorrang und mildert diesen erst noch ab zu einem «Inländer-Vorrang». Das heisst, wir sind von dem, was die Initiative verlangt, rechtlich gesehen weit weg, und die Wirkung wird bei weitem nicht die gleiche sein, wie mit der Einführung von Höchstzahlen. Das ist ganz klar. Vorrang bedeutet ja, dass man Arbeitskräfte aus dem Ausland nach wie vor anstellen kann, falls man zuhause niemand findet.

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swissinfo.ch: Im Verfassungsartikel heisst es, dass die Steuerung der Zuwanderung auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen ausgerichtet werden soll. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ch.T.: Doch, das sehen viele so. Kommt hinzu, dass sich der Inländervorrang nur auf den Arbeitsmarkt bezieht. Im Verfassungsartikel steht nämlich auch, dass sämtliche Kategorien der Aufenthaltsbewilligungen den Höchstzahlen und Kontingenten unterstehen würden. Mir ist nicht klar, ob dieses Element jetzt einfach weggelassen wird und es nur noch um den Arbeitsmarkt geht, und was mit den anderen Aufenthaltsbewilligungs-Kategorien geschehen soll.

swissinfo.ch: Aber das Schweizer Volk, das mit 50,3% der Stimmenden Ja sagte zur Initiative, wollte doch die ‹Masseneinwanderung› stoppen.

Ch.T.: Das Ziel war tatsächlich klar eine wirksame Steuerung der Zuwanderung.

swissinfo.ch: Sollte man dem Volk nicht klaren Wein einschenken und sagen: Beides – nämlich wirtschaftliches Gesamtinteresse und Zuwanderungsstopp – ist nicht zu haben. Also entscheidet euch für das eine oder andere?

Ch.T.: Das kommt mit der RASA-Initiative, welche ganz direkt fragt, ob man den Artikel in der Verfassung wieder streichen, also die Abstimmung vom 9. Februar 2014 rückgängig machen will.

Aber unsere Regierung und Verwaltung hoffen vermutlich, dass sich das ganze Problem vorher aus der Welt schaffen lässt, idealerweise durch eine Einigung mit der EU.

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