Die spinnen, die Glarner!
Die Regierung des Kantons Glarus will keine elektronische Hilfe bei der Stimmenzählung an der Landsgemeinde. Ein mathematisch nicht exaktes Ergebnis gehöre zum Wesen der Versammlungsdemokratie, lautet die etwas sonderbare Begründung.
Im Kanton Glarus versammeln sich Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einmal jährlich unter freiem Himmel, um über Verfassungs- und Gesetzesänderungen sowie die Höhe der Steuern zu entscheiden. Diese so genannte Landsgemeinde hat eine jahrhundertealte Tradition.
Gestimmt wird mittels Aufhebens der Hand beziehungsweise inzwischen mittels Hochhebens der farbigen Stimmkarten. Die Stimmen werden aber nicht ausgezählt, sondern mit blossem Auge geschätzt.
Das Problem dabei: Bei knappen Entscheiden kann selbst das geübteste Auge das Ergebnis nicht klar erkennen. Den Stichentscheid fällt in solchen Fällen der Landammann (Regierungspräsident).
Im Kanton Appenzell-Ausserrhoden verdanken die Frauen diesem Vorgehen wohl ihr Stimmrecht: Im Jahr 1989 fällte der Landammann den Stichentscheid zugunsten des Frauenstimmrechts – Kritiker munkeln bis heute, er habe beim Schätzen der Stimmen geschummelt, um einen Entscheid im Sinne der Regierung zu erzwingen. Bereits vier Mal hatten sich die männlichen Stimmberechtigten zuvor gegen das Wahl- und Stimmrecht für Frauen auf kantonaler Ebene ausgesprochen.
Elektronische Hilfen bei der Stimmenzählung
An der Landsgemeinde wird von blossem Auge geschätzt, wie viele Bürger und Bürgerinnen ihre Hand mit der farbigen Stimmkarte in die Luft heben. Für die Ermittlung von Abstimmungsergebnissen bei Versammlungen gibt es schon seit längerem digitale Helfer: Mit dem elektronischen Stimmenzähler, einem kleinen Gerät, das die Teilnehmenden vor Ort erhalten, können sie per Knopfdruck abstimmen. Diese Geräte kommen beispielsweise bei Aktionärsversammlungen grosser Unternehmen zur Anwendung.
Alternativ könnte eine spezielle Kamera über dem Landgemeindeplatz die Stimmkarten erfassen. In einem BerichtExterner Link zuhanden der Glarner Regierung aber haben Experten diese Tools für die Landsgemeinde verworfen, weil noch «zu viele Fragen betreffend deren Eignung, Leistung und Sicherheit offen sind».
Regierungspräsident darf falsch schätzen
Zurück in den Kanton Glarus: Dort hat die Kantonsregierung jüngst gestützt auf einen ExpertenberichtExterner LinkentschiedenExterner Link, auch künftig auf elektronische Hilfe beim Stimmenzählen zu verzichten. Nebst Kostengründen und angeblich nicht ausgereifter Technik wird eine weitere Begründung vorgebracht, bei der man sich als Aussenstehender nur verwundert die Augen reiben kann: Der Einsatz von elektronischen Hilfen beschränke die «Entscheidkompetenz» des Landammanns und verändere das «Wesen der Landsgemeinde».
Wie bitte? Soll in Glarus der Landammann etwa falsch schätzen dürfen? Gehört falsch Schätzen statt exakt Zählen gar zum Charakter der Landsgemeinde?
Der Glarner Politologe Hans-Peter Schaub findet die Begründung der Regierung wenig überzeugend. Er hat dem Kanton Glarus in seiner DissertationExterner Link die elektronische Stimmabgabe unter anderem zur Wahrung des Stimmgeheimnisses empfohlen (schliesslich kann beim Aufheben der Hand jeder sehen, was der andere stimmt). Nun sagt er: «Versammlungsdemokratie heisst nicht, dass die Stimmen geschätzt werden müssen – viele Versammlungsdemokratien kannten und kennen eine genaue Stimmenauszählung.» Die Landsgemeinde sei keine Bühne für den Landammann, sondern eine Plattform für Bürgerinnen und Bürger.
Mathematisch nicht exaktes Ergebnis ist gewollt
Eine Nachfrage bei der Glarner Regierung trägt nicht gerade zur Beruhigung bei: «Die Kompetenz des Landammanns, das Mehr abzuschätzen, gehört zum Wesen der Landsgemeinde. Damit geht nun einmal ein mathematisch nicht exaktes Ergebnis einher», bekräftigt der Ratsschreiber Hansjörg Dürst gegenüber swissinfo.ch.
Und weiter: «Ohne dies herablassend zu meinen: Es ist für Aussenstehende nicht immer einfach zu verstehen, weshalb man im Glarnerland gewisse Nachteile in Kauf nimmt.» Grundsätzlich sei das Verfahren unbestritten. Es gelte nämlich die ungeschriebene Regel, dass der Landammann gegen den eigenen Antrag entscheide, wenn das Mehr nicht eindeutig sei.
Da sind wir aber beruhigt. Stets gegen den eigenen Antrag zu entscheiden, ist schliesslich fast so exakt und objektiv wie Mathematik. Ohne dies herablassend zu meinen, müssen wir doch Obelix zitieren: Die spinnen, die Glarner!
Die Landsgemeinde
Die Landsgemeinde ist eine Schweizer Urform der Versammlungsdemokratie. Sie ist im Mittelalter entstanden und existierte ursprünglich in acht Kantonen. Heute gibt es sie nur noch in den Kantonen Glarus und Appenzell-Innerrhoden.
Der Politologe Hans-Peter Schaub hat in seiner DissertationExterner Link untersucht, ob die Landsgemeinde demokratischer ist als Urnenabstimmungen. Er hat dabei sowohl Vor- als auch Nachteile festgestellt. Beispielsweise sind das Rederecht für alle und die ausgebauten Antragsrechte eine grosse demokratische Stärke der Landsgemeinde.
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