Neues Asylzentrum: Hier gab’s Zoff, dort Applaus
Seelisberg und Mühleberg sind zwei von zahlreichen Gemeinden in der Schweiz, in denen ein Asylzentrum eröffnet werden soll. In Seelisberg kam es bei der Präsentation des Projekts zum Eklat. In Mühleberg erhielten die Behörden sogar Applaus. Mühleberger haben nicht mehr Herz für Flüchtlinge als Seelisberger, aber eine geschickte Behörde. Das zeigt ein Augenschein.
Seelisberg im Kanton Uri
Die Gemeinde im Herzen der Zentralschweiz in der Nähe des Rütlis – der «Wiege der Schweiz» – bezeichnet sich selbst als Sonnenterrasse über dem Vierwaldstättersee. «Die zauberhafte Fernsicht auf den See und die wunderbare Bergwelt lässt auch Ihr Herz höher schlagen», wirbt die Gemeinde für ihren TourismusstandortExterner Link. Für erhöhten Puls sorgte diesen Sommer die Absichtserklärung des Kantons Uri, im ehemaligen Hotel Löwen in Seelisberg ein Asylzentrum zu errichten.
21. Juli: Die Bevölkerung erfährt aus Flugblättern in den Briefkästen von dem Projekt. In der Gemeinde regt sich Widerstand. Viele wollen nicht akzeptieren, dass die 700-Seelen-Gemeinde 60 Asylsuchende unterbringen soll. Sie sorgen sich um die Sicherheit und befürchten negative Auswirkungen auf den Tourismus im Ort.
4. August: Die Behörden wollen über das Asylprojekt informieren. Es entsteht ein Streit, der zu Schlagzeilen in allen grossen Schweizer Medien führen wird. Mehrere aufgebrachte Bürger machen ihrem Unmut lautstark Luft. Die zuständige kantonale Regierungsrätin wird derart beschimpft, dass die Veranstaltung abgebrochen werden muss.
16. August: Im Streit um das Asylzentrum beschliesst die Kantonsregierung, das Projekt einstweilen zu sistieren. Um das Vertrauen wieder herzustellen, soll die verfahrene Situation an einem «runden TischExterner Link» aufgearbeitet werden.
Mühleberg im Kanton Bern
Über die Landesgrenze hinaus bekannt geworden ist Mühleberg am Rand des Berner Seelands, weil dort ein Atomkraftwerk steht, das Ende 2019 als erstes in der Schweiz vom Netz genommen wird. Ansonsten gab die GemeindeExterner Link in ihrer 1000-jährigen Geschichte in den nationalen Medien wenig zu reden. Von der bevorstehenden Eröffnung eines Asylzentrums nimmt ausserhalb der Gemeinde kaum jemand Notiz.
Anfang Mai: Im Gemeindeblatt Nr. 127, das an alle Haushaltungen verschickt wird, steht, «dass sich der Gemeinderat dafür ausspricht, im leerstehenden Schulhaus Mühleberg …Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge generell prüfen zu lassen».
30. Mai: An der Gemeindeversammlung nehmen 55 Personen zur Kenntnis, dass diese Umnutzung geprüft wird.
17. August: Der Gemeinderat informiert auf der Homepage über seinen Entscheid, dass das leerstehende Schulhaus ab November als Unterkunft für asylsuchende Menschen dienen wird. Die Bevölkerung wird zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Den Berner Tageszeitungen ist die Ankündigung eine Randnotiz wert.
1. September: Die Informationsveranstaltung in der Aula des neuen Schulzentrums ist bis auf den letzten Platz besetzt. An den Tischen vor dem Publikum sitzen der RegierungsstatthalterExterner Link, ein Vertreter des kantonalen MigrationsdienstesExterner Link, ein Vertreter der Heilsarmee.Externer Link Gemeindepräsident René Maire zeigt sich «überwältigt vom grossen Interesse für den Anlass». Das zögerliche Lächeln auf seinem Gesicht lässt erahnen, dass er keine Routineveranstaltung erwartet. Nur wenige Bürger hatten ihren Unmut bisher offen kundgetan. Vielleicht wurden die Messer im Hintergrund gewetzt, und die Ereignisse in Seelisberg könnten ja Schule machen.
«Angesichts des ganzen Elends muss man etwas unternehmen. Die Leute kommen zu uns, ob wir wollen oder nicht. Der Gemeinderat hat entschieden, einen Beitrag zu leisten, um den betroffenen Menschen beim Neustart zu helfen», sagt Maire einleitend. Dann ruft er dazu auf, die Vertreter der zuständigen Behörden, die nun Rede und Antwort stehen werden, mit Applaus zu begrüssen. Der kräftige Beifall sorgt für etwas Verwunderung, im Publikum wie auf dem Podium.
Keine Asyldebatte!
Regierungsstatthalter Christoph Lerch (Vertreter der Kantonsregierung) stellt mit der Bekanntgabe der «Spielregeln» klar: Das Ziel ist ein Dialog zwischen Behörden und Bevölkerung. Wer das Wort ergreift, erhält das Mikrofon und gibt zuerst seinen Namen und Wohnort bekannt. Ausfälligkeiten werden nicht toleriert. Es gibt keine Asyldebatte, sondern Informationen und Antworten auf Fragen zur Asylunterkunft.
Auch ein Kantonspolizist gehört zum erweiterten Kreis der aufgebotenen Auskunftspersonen. Er erscheint in Uniform – ein deutliches Zeichen dafür, dass die Verantwortlichen einen geordneten Verlauf der Veranstaltung sicherstellen wollen.
Mühleberg ist weder die erste noch die letzte Gemeinde im Kanton, in der Unterkünfte für Asylsuchende geschaffen werden müssen. Von den 40’000 Personen, die 2015 in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt haben, muss der Kanton Bern 13,5 Prozent unterbringen. 2016 werden ähnliche viele erwartet. «Derzeit treffen jede Woche 290 Personen bei uns ein», berichtet Daniel Rudin vom kantonalen Migrationsdienst. «Wir müssen in kurzer Zeit 5000 neue Plätze schaffen. Der Kanton ist auf die Gemeinden angewiesen.» Bis heute gebe es Asylunterkünfte in rund 50 der insgesamt 365 Berner Gemeinden, darunter auch 6 Wohnheime für bisher 500 unbegleitete Minderjährige. Das jüngste Kind, gibt Rudin zu bedenken, «ist ein sechsjähriges Mädchen».
«Man muss keine Angst haben vor einer Asylunterkunft», beruhigt Dominik Wäfler von der Heilsarmee, die für die Betreuung der neuen Bewohner im alten Schulhaus sorgen wird. Die Flüchtlingshilfe der Heilsarmee führt im Auftrag des Kantons bereits mehr als 20 Asylzentren. «Rund um die Uhr ist jemand von uns in der Unterkunft präsent.» Asylsuchende dürften keiner bezahlten Arbeit nachgehen, sagt Wäfler. «Deshalb sorgen wir auch dafür, dass keine Probleme wegen aufkommender Langeweile entstehen. Die Bewohner kochen und putzen selber. Pro Tag erhalten sie 9 Franken 50.» Für Kaffee und Brötchen habe er soeben im Wirtshaus mehr als die Hälfte davon ausgegeben, illustriert Wäfler die Kaufkraft dieses Betrags.
Verbreitetes Unbehagen
Dass die Asylunterkunft auch in Mühleberg keine Begeisterungswelle auslöst, zeigt sich in den anschliessenden Fragen. Einzelne geben ihrem Unmut mit deutlichen Worten Ausdruck und ernten dafür Beifall. Aber die Verantwortlichen auf dem Podium sind vorbereitet. Sie nehmen die Ängste der anwesenden Bürger ernst und bieten Hand zu Lösungen. Aus den Erfahrungen in anderen Gemeinden haben sie gelernt, wie sich Vorurteile entkräften, Emotionen im Zaum halten und aufkommende Hetzversuche im Kein ersticken lassen.
Sauer aufgestossen ist einigen im Saal, dass «man in einer Demokratie nicht über die Asylunterkunft in der eigenen Gemeinde mitbestimmen, sondern den Entscheid des Gemeinderats nur noch zur Kenntnis nehmen kann». Ein Familienvater sorgt sich um seine Kinder, weil der Schulweg an der Asylunterkunft vorbeiführt. Und ein Anwohner will wissen, was die Polizei zu seiner Sicherheit unternehmen werde.
«Diese Leute sind keine Kriminellen», stellt der Kantonspolizist klar, «und sie werden über unsere Gesetze und Regeln informiert.» Im Asylzentrum sorge die Heilsarmee für die Einhaltung der Ordnung, ergänzt Wäfler. «Es gibt einen Sanktionen-Katalog. Im schlimmsten Fall droht ein Ausschluss aus der Unterkunft. Aber die rmeisten Bewohner sind hochanständige Leute.»
Einige Votanten begrüssen den Entscheid des Gemeinderats oder wollen ihn wenigstens akzeptieren. «Mir ist diese Lösung jedenfalls lieber, als jene von Herrn Glarner», sagt ein Bürger in Anspielung auf die Situation in Oberwil-LieliExterner Link. Die reiche Aargauer Gemeinde, in welcher der Asylchef der Schweizerischen Volkspartei Gemeindeammann (Präsident) ist, hat es abgelehnt, acht Asylsuchende aufzunehmen. Stattdessen entschied sich eine knappe Mehrheit der Stimmenden in Oberwil-Lieli für Andreas Glarners Vorschlag, sich beim Kanton mit 290’000 Franken pro Jahr «freizukaufenExterner Link«.
Auch der Mühleberger Gemeindepräsident ist Mitglied der SVP. In jungen Jahren sei er selber in ferne Länder gereist, deren Kultur für ihn gewöhnungsbedürftig gewesen sei. Man möge doch trotz Unbehagen daran denken, dass es den schutzsuchenden Menschen bei uns auch nicht von Beginn weg wohl sein könnte, sagt René Maire und erntet für sein Schlusswort nochmals kräftigen Applaus.
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