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Luftschutzräume statt Containersiedlungen für Geflüchtete: Handelt die Schweiz noch human?

Container, die als Unterkünfte dienen
Etwas Farbe nimmt den Container, die als Unterkünfte dienen, den Cargo-Charakter. Die modularen Unterkünfte gelten als Mittel der Wahl für den kurzfristigen Bau von Flüchtlingsunterkünften. Das Schweizer Parlament hat einen Kredit dafür dennoch abgelehnt. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved

Mitte Juni hat das Schweizer Parlament einen Kredit für Container zur Unterbringung von Migrant:innen abgelehnt – mit einem höchst umstrittenen Argument.

In den Schutzräumen der Schweiz ist Platz vorhanden. Es ist daher nicht nötig, 132,9 Millionen Franken für Containerbauten auszugeben. Mit dieser Botschaft lehnte das Parlament Mitte Juni unter der Führung des Ständerats das Vorhaben ab, 3000 Plätze für die vorübergehende Unterbringung von Asylsuchenden in Containern zu schaffen.

Das Projekt, das von der sozialdemokratischen Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider und später – da es sich um eine Ergänzung des Bundesbudgets handelte – von der FDP-Finanzministerin Karin Keller-Sutter vorangetrieben wurde, fand keine Gnade bei der Rechten: Teile der Mitte und der FDP wollten der rechtskonservativen SVP im Wahljahr keine Munition liefern.

Elisabeth Baume-Schneider
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider setzte sich für ein Containerprojekt zur Unterbringung von Migrant:innen ein – ohne den gewünschten Erfolg. Keystone / Peter Schneider

Die Absicht von Baume-Schneider, der Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, war durchaus ehrenwert: Sie wollte einem massiven Zustrom von Flüchtenden in diesem Jahr zuvorkommen und ihnen eine angemessene Unterkunft in Containern bieten.

Da der Bund für die Erstaufnahme zuständig ist und die Kantone dann gemäss einer Quote die Migrant:innen aufnehmen und unterbringen müssen, hat Baume-Schneider die Erstaufnahme von Flüchtlingen in Containern vorgesehen.

Der Auslöser

Doch die kleine Kammer lehnte den beantragten Kredit ab, sogar in halbierter Form, wie von ihrer Kommission beantragt. Der grosse Kammer versuchte vergeblich, dieser Lösung zur Annahme zu verhelfen. Aber der Vorschlag der Einigungskonferenz, 66,45 Millionen für die Container freizugeben, kam nicht durch. Sehr zum Missfallen der Linken, eines Teils der Mitte und einiger Mitglieder der FDP.

Die Parlamentarier:innen relativierten die Dringlichkeit der Situation. Sie kritisierten auch die ungenauen Informationen des Staatssekretariats für Migration (SEM), das nie in der Lage war, die verfügbaren Plätze in den Schutzunterkünften anzugeben.

Das Argument, das den Widerstand auslöste, war eben diese Kapazität der Zivilschutzräume. Mitte-Ständerat Benedikt Würth betonte immer wieder, dass diese Millionen teuren öffentlichen Einrichtungen sehr wohl als Unterkünfte funktionieren könnten.

Die Kantone verwiesen darauf, dass sie diese Schutzräume als Reserve für die Unterbringung von Asylsuchenden benötigten, für die sie verantwortlich seien, jedoch vergeblich.

Isabelle Moret
Isabelle Moret sagt, dass Notunterkünfte nicht dafür geeignet sind, Familien unterzubringen. © Keystone / Christian Beutler

Isabelle Moret, die für die Migrationspolitik zuständige Staatsrätin des Kantons Waadt, erklärte in der Sendung Forum des Westschweizer Fernsehens RTS enttäuscht: «Im Kanton Waadt haben wir beschlossen, keine Familien mit Kindern in die Zivilschutzräume zu bringen, weil diese nicht kindergerecht sind».

Die Schutzräume befinden sich nicht nur unter der Erde, sondern manchmal auch unter Schulen und können nur nachts genutzt werden. «Das ist keine würdige Aufnahme für Familien in unserem Land», sagte Moret.

14 Monate im Untergrund

Mohammad Jadallah, ein ehemaliger sudanesischer Flüchtling, hat Erfahrung mit Schutzräumen. Die Rückkehr zur Nutzung dieser Unterkünfte für die Unterbringung von Migrant:innen sei ein Rückschritt, sagt er. Er ist die treibende Kraft hinter der sogenannten «Stop Bunker»-Bewegung, die Mitte der 2000er-Jahre für Aufsehen sorgte, weil sie die Nutzung dieser Unterkünfte für Asylsuchende anprangerte.

«Diese Unterkünfte wurden für Notfälle gebaut. Und um dort höchstens zwei oder drei Wochen lang zu leben», sagt Jadallah. «In Genf habe ich mit Flüchtlingen zu tun gehabt, die sich dort 13, 14 Monate lang aufgehalten haben. Das war wirklich hart. Neben den Problemen des Zusammenlebens (es gab häufig Schlägereien), gab es auch Gesundheitsfragen wie Bettwanzen. Wo ist der Integrationsgedanke, wenn man Menschen in solchen Unterkünften unterbringt?»

Die Menschen, die dort leben, seien bereits durch den Krieg traumatisiert. «Man darf nicht denken, dass sie alle aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Der Krieg ist überall auf der Welt.»

«Stop Bunker», das von Asylsuchenden und einem halben Dutzend Vereinen getragen wird, hatte um 2015 in Genf erreicht, dass keine Schutzräume mehr zur Unterbringung von Migrant:innen genutzt wurden. Seit letztem Herbst sind die Türen jedoch wieder geöffnet. «Nicht, um Ukrainer aufzunehmen. Sondern Afghanen, Iraker, …», so Jadallah.

Iskander Guetta, Mitkurator einer Ausstellung über Notunterkünfte, die diesen Frühling in Lausanne stattgefunden hat, ist empört: «Wir plädieren dafür, diese Räume zugänglich zu machen. Aber nicht, um dort Migranten unterzubringen. Einige von ihnen haben uns gesagt, dass sie schockiert seien, sich unter der Erde zu befinden und ignoriert zu werden. Es sind dunkle Räume, die die Gewalt ihrer Migrationsgeschichte noch verstärken.»

Eine Notmassnahme, nichts weiter

Nach Ansicht der Schweizer Flüchtlingshilfe muss die Unterbringung in Zivilschutzräumen «eine zeitlich begrenzte Notmassnahme und das letzte Mittel bleiben». So fasst es Sprecher Lionel Walter. «Nach Möglichkeit sollten solche Einrichtungen nicht bis an ihre Kapazitätsgrenzen ausgelastet werden. Die Bewegungsfreiheit darf unter keinen Umständen eingeschränkt werden, die Flüchtlinge müssen jederzeit Zugang zum Freien haben. Familien, Kinder und schutzbedürftige Personen dürfen dort nicht untergebracht werden.»

Samuel Wyss, Sprecher des Staatssekretariats für Migration, sagt, dass sein Departement seit Jahrzehnten verschiedene Arten von Unterkünften nutzt, darunter auch einige Zivilschutzräume, wobei diese grundsätzlich nur dann genutzt würden, wenn keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung stünden. Es sei dann jedoch Sache der Kantone, diese Massnahmen entsprechend den ihnen zugewiesenen Migrationsquoten und den verfügbaren Plätzen  anzuwenden.

Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Flüchtlinge in der Schweiz den Weg über Schutzräume gehen mussten. Die Praxis ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mitte Juni befanden sich 520 der 5480 Personen, die derzeit in den Einrichtungen des SEM untergebracht sind, in einem unterirdischen Schutzraum. Wyss sagt, nach Möglichkeit würden Personen in unterirdischen Anlagen untergebracht, die schnell einen Entscheid erhalten.

Auch der Ukraine geflohene Personen wurden vorübergehend in solchen Unterkünften untergebracht, obwohl die Umgebung sie viel zu sehr an den Krieg erinnerte. Dies ist jedoch letztlich bei den meisten Asylsuchenden der Fall, wie Jadallah sagt.

Fürs Bundesgericht nicht inhuman

Im Jahr 2013 fällte das Bundesgericht ein Urteil, in dem es feststellte, dass die Unterbringung in einem Schutzraum nicht so unmenschlich sei.

Zivilschutzanlagen seien Notunterkünfte, die zwar bewohnbar, aber keine Langzeitunterkünfte seien. Die Tatsache, dass man sich dort im Rahmen einer grundsätzlich vorübergehenden Nothilfe aufhalten müsse – ohne verpflichtet zu sein, den ganzen oder einen Teil des Tages dort zu verbringen – könne jedoch nicht als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einer Person angesehen werden, die nicht als besonders schutzbedürftig gelte.

Editiert von Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger.

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