Der kleine Schweizer Junge ist angekommen
Der Clown, Akrobat, Comedian und Regisseur Martin Zimmermann gewinnt den Schweizer Grand Prix der Darstellenden Künste 2021. Was macht den Mann aus einer Zürcher Berggemeinde international so erfolgreich?
Wenn er das Gleichgewicht sucht, fällt alles zusammen. Wenn er an eine Tür klopft, bricht sie zusammen; wenn er auf dem Boden geht, rutscht ihm dieser unter den Füssen weg; wenn er den Kopf hebt, rutscht er ihm bis zur Taille und entstellt seine Silhouette; wenn er «Hallo» sagt, antwortet ihm ein höhnisches Lachen aus einer Falltür.
Martin Zimmermann findet nur Ärger, zumindest auf der Bühne.
«Dieser Preis ist wie eine Goldmedaille. Er hilft mir, die schwierigen Momente der Krise zu vergessen, als ich allein in meinem Atelier in Zürich war und dachte: Mein Gott, was ist, wenn alles zu Ende geht»
Im echten Leben hat der Schlangenmensch, Tänzer, Akrobat und Komödiant aus Zürich die Gabe, Rückschläge zu überwinden. Die Gesundheitskrise, die gerade die Kunstwelt schwer getroffen hat, hat er mit einem Stück aufgefangen, das er schelmisch «Wonderful World» nennt.
Er wird es 2022 zeigen, mit der Ironie und dem Humor, der Zärtlichkeit und der Wildheit, die ihn auszeichnen.
Das Geschenk der Vorfreude
«Wonderful World» beobachtet, wie Männern und Frauen auf eine Ausnahmesituation reagieren. Man denkt dabei – natürlich – an das Coronavirus. Aber der Titel «Wonderful World» kann ebenso als der freudige Ausdruck eines erfüllten Menschen interpretiert werden, der sein zukünftiges Glück in zwei Worten vorwegnimmt: Martin Zimmermann ist Preisträger des Hans Reinhart Grand Prix für Darstellende Künste 2021. Die Nachricht erreichte ihn am 2. September, und der Künstler weinte.
«Dieser Preis ist meine Goldmedaille», sagt er. Nie hätte er geglaubt, dass ihr ihn je bekommen würde. «Sie können sich vorstellen, dass ich jetzt zu einer Familie von Preisträgerinnen und Preisträgern gehöre, die viel berühmter sind als ich, wie Bruno Ganz und Christoph Marthaler. Diese Auszeichnung ist wie vom Himmel gefallen, sie hilft mir, die schwierigen Momente der Krise zu vergessen, als ich allein in meinem Atelier in Zürich war und dachte: Mein Gott, was ist, wenn alles zu Ende geht?»
Das Schicksal bezwingen
Damals aber lachte er auch über seine Verzweiflung. Um das Schicksal abzuwehren – ganz so, wie es seine Figuren auf der Bühne mit schonungslosem Humor tun –, beschloss er, den künstlerischen Tod anzunehmen, ja zu vereinnahmen. Also fertigte er sich ein Skelett an, das er in seiner Show «Danse Macabre» trug, die im vergangenen August in Zürich uraufgeführt wurde.
Das Bundesamt für Kultur (BAK), das sich der Schwierigkeiten bewusst ist, mit denen die Welt der darstellenden Künste in letzter Zeit konfrontiert war, hat beschlossen, die Aufmerksamkeit auf «eine Generation von Künstlerinnen und Künstlern (…) zu lenken, die in der gegenwärtigen Situation und in der Zeit nach Covid-19 eine wichtige Rolle spielen müssen und werden».
>> «Ich fühle mich nicht wohl mit Worten», sagte Martin Zimmermann 2019 gegenüber swissinfo.ch (in Französisch):
Einhunderttausend Franken. Das ist der Betrag, der für den Gewinner des Grand Prix reserviert ist. Was er mit diesem Geld machen werde, fragen wir Martin Zimmermann? «Oh, ich werde zuerst mit meiner Familie Urlaub machen. Und ich kann nicht verhehlen, dass diese Summe für einen unabhängigen Künstler wie mich nicht zu viel ist. Ich habe keinen Ruhestand geplant, auch darum nicht, weil ich immer noch kreativ sein will. Wenn ich 70 bin, werde ich wahrscheinlich Prothesen tragen, ich werde immer noch spielen und ich werde immer noch ein Skelett bauen. Je näher ich dem Tod komme, desto wichtiger wird mein Skelett.»
Erfolg in New York
Martin Zimmermann wurde 1970 geboren und wuchs in Wildberg im Kanton Zürich auf. In den Scheunen auf dem Land produzierte er seine ersten Shows. Der Erfolg liess nicht lange auf sich warten. Er begann mit komischen Jonglagen und Zaubertricks, die er anlässlich einer Sendung vor den Kameras von Télévision Suisse Romande (TSR) vorführen konnte. 12 Jahre alt war er damals. In den 1980er Jahren engagierte ihn der Zirkus Knie für eine Show für ein junges Publikum. Die Tournee durch zwölf Schweizer Städte beflügelte ihn. Er unterstrich seine Ambitionen, als er eine Tanzschule in Winterthur besuchte, bevor er 1997 in das «Centre national des arts du cirque» in Paris eintrat.
Der junge Mann aus «einem kleinen Dorf in Zürich», wie er sagt, hat inzwischen «einen internationalen Erfolg erzielt, wie ihn nur wenige Schweizer Künstler erlebt haben». Das sagt er nicht ohne Stolz. Europäische Theater und Festivals fragen regelmäßig seine Dienste an. Aber das Interesse kommt auch aus Tokio, Kyoto, Sydney… – wohin er viele Male eingeladen wurde. Doch ist es New York, von dem er heute am liebsten spricht. «Mein Stück ‹Hallo› habe ich dort 2015 in der Brooklyn Academy of Music (BAM) aufgeführt, einem Veranstaltungsort, der selbst Stars zum Träumen bringt. Mich hat er zum Zittern gebracht. Ich hatte schreckliches Lampenfieber, bevor ich auf diese mythische Bühne ging, auf der einst Michael Jackson und James Brown aufgetreten sind.»
Zwei Wochen Aufführungen in New York, stehende Ovationen. Bevor er die Bühne betrat, habe er sich auf seinem iPhone die Fotos seiner Kindheit in seinem Zürcher Dorf angeschaut, erzählt er. Um sich selbst Mut zu machen, wiederholte er, dass «der kleine Schweizer Junge angekommen» sei, dass er seine Lektion von seinem Grossvater mütterlicherseits, einem Käsemeister, gut gelernt habe. Sein Grossvater pflegte zu ihm zu sagen: «Arbeit ist ein Handwerk, das man mit Liebe ausüben muss, wenn man will, dass die Leute zu einem zurückkommen».
>> 2018 gab Martin Zimmermann dem Schweizer Radio Fernsehen (RTS) ein Interview, um seine Sendung «Eins, zwei, drei» vorzustellen (in Französisch, ab 19.30):
Weitere Preisträgerinnen und Preisträger 2021:
Nicole Seiler, multidisziplinäre Künstlerin aus dem Kanton Waadt, geboren 1970 (Interdisziplinärer Preis)
Ballet junior de Genève, eine vor mehr als 50 Jahren in Genf gegründete Ausbildungsstätte (Tanzpreis)
Breakthrough und Groove’N’Move, zwei urbane Tanzfestivals, die seit zehn Jahren in Zürich und Genf stattfinden (Tanzpreis)
Mathieu Bertholet, Autor und Regisseur aus dem Wallis, geboren 1977, derzeit Direktor des Théâtre de Poche in Genf (Theaterpreis)
Tanya Beyeler, Tessiner Regisseurin, geboren 1980 (Theaterpreis)
Das deutsch-schweizerische Duo Beatrice Fleischlin und Anja Meser. Ihre gemeinsame Arbeit beschäftigt sich mit Geschlecht und Identität (Theaterpreis)
Joël Maillard, Waadtländer Schauspieler, Autor und Regisseur, geboren 1978 (Theaterpreis)
Antje Schupp, Schauspielerin und Regisseurin für Sprech- und Musiktheater aus Basel (Theaterpreis)
Manuel Stahlberger, geboren 1974, Kabarettist, Musiker und Cartoonist aus St. Gallen (Theaterpreis)
Jeder dieser Preise ist mit 40’000 CHF dotiert. Die Preisverleihung findet am 28. Oktober im Théâtre du Jura in Delémont statt.
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