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Was die Massenhaltung für das Tierwohl bedeutet

Hühner in einem Stall
© Keystone / Gaetan Bally

Die Massentierhaltungsinitiative sieht vor, dass Nutztiere in kleineren Gruppen gehalten werden. Für das Tierwohl jedoch sind andere Faktoren entscheidender.

Auf dem Instagram-AccountExterner Link der Lobbyorganisation «Schweizer Fleisch» muss man eine ganze Weile runterscrollen, bis das erste Bild eines Tieres auftaucht: Ein Rind, das von einem Landwirt gehätschelt wird. Dass diese individuelle Hege kaum dem Alltag auf landwirtschaftlichen Betrieben entspricht, legt ein Blick in die Statistik nahe: 2021 wurden in der Schweiz 83 Millionen Nutztiere geschlachtetExterner Link. Der Fleisch- und der Eierkonsum der Schweizer Bevölkerung haben im Vergleich zum Vorjahr zugenommenExterner Link.

Eine Initiative fordert nun, dass Nutztiere unter besseren Bedingungen gehalten werden sollen. Die Massentierhaltungsinitiative will die Würde der Tiere in der landwirtschaftlichen Tierhaltung in die Bundesverfassung schreiben und auch deren Anspruch, nicht in Massenhaltung leben zu müssen. Wird die Initiative am 25. September angenommen, muss der Bund die Anforderungen an die Tierhaltung anpassen. Als Mindeststandards gelten die Bio-Suisse-Richtlinien von 2018Externer Link.

Lässt sich mit dieser Strategie das Wohl der Nutztiere steigern?

Was würde sich damit ändern? Für Hühner zum Beispiel sehen diese Richtlinien tiefere Höchstbestände pro Betrieb vor, als sie heute in der konventionellen Haltung gelten. Ein konventioneller Betrieb darf 18’000 Legehennen halten, ein Bio-Betrieb 4’000 und 2’000 pro Stall. Bei Masthühnern sind 27’000 pro konventionellen Betrieb erlaubt, gleich viele für einen Bio-Betrieb, dort jedoch maximal 2’000 pro Stall.

«Es gibt keine Evidenz, dass es bei Hühnern einen Zusammenhang zwischen der Gruppengrösse und dem Tierwohl gibt», sagt Sabine Gebhardt. Sie forscht am Zentrum für tiergerechte Haltung von Geflügel und KaninchenExterner Link der Universität Bern. Ihre Aussage gelte jedenfalls für die Herdengrössen in der Schweiz. «Die Obergrenzen runterzuschrauben, wie es die Initiative verlangt, bringt den Tieren nichts.»

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Gruppengrösse ist kein Faktor

Entscheidend für das Wohlbefinden seien andere Faktoren: «Hühner wollen scharren, nach Futter suchen und ihre Umgebung erkunden.» Da Hühner ihr Gefieder mit Sand und nicht mit Wasser reinigen, sei es wichtig, dass im Stall genügend Einstreu vorhanden sei. Das schreibt die TierschutzverordnungExterner Link bereits heute vor. Wichtig sei zudem, so Gebhardt, dass Legehennen auf Sitzstangen auf verschiedenen Höhen schlafen und ihre Eier in ein abgedunkeltes Nest legen können.

Sabine Gebhardt
Sabine Gebhardt vom Zentrum für tiergerechte Haltung. zVg

Über 90% aller Legehennen in der Schweiz haben Zugang zu Wintergärten, Auslauf ins Freie haben rund 85%, sagt Gebhardt. Und: «Beides ist nur für Bio-Betriebe vorgeschrieben, aber Landwirtinnen erhalten Geld für diese Massnahmen, darum sind die Zahlen so hoch. Entsprechend würden nicht viele zusätzliche Tiere von der Annahme der Initiative profitieren.»

Das Leiden der schnellen Hybriden

Verbessern könnte sich hingegen die Lage von Mastpoulets: Schnellwachsende Hybride nehmen so rasch an Gewicht zu, dass sich ihr Skelett verkrümmt und ihre Gelenke beschädigt werden. Sie wachsen wesentlich schneller als herkömmliche Rassen und brauchen entsprechend weniger Futter, was sie ökonomisch interessant macht.

Für Bio-Betriebe sind schnell wachsende Hybride verboten. Mit der Annahme der Initiative würde ein solches Verbot generell gelten. «Diesen Tieren nützt selbst der Zugang ins Freie nichts, da die meisten von ihnen nur rumliegen», so Gebhardt. Sie verweist auf die Niederlande, wo Supermärkte sich entschlossen habenExterner Link, ausschliesslich langsamer wachsende Rassen zu verkaufen. Reduziert hat sich die Zucht von schnell wachsenden Hybriden in den Niederlanden aber nicht. Statt im Inland verzehrt, werden sie nun vermehrt ins Ausland exportiert.

Hühner sind die einzige Tierart, bei der die Massentierhaltungsinitiative die Grenze der Höchstbestände verändern würde. Denn etwa für Kühe und Schweine sehen die Bio-Suisse-Richtlinien keine solche Grenzen vor. Es würden weiterhin die Höchstbestände gelten, die in der HöchstbestandesverordnungExterner Link stehen: 300 Mastkälber dürfen pro Stall gehalten werden und 1’500 Mastschweine. Für Milchkühe gibt es keine Obergrenze. Tierwohlaspekte standen 1979 bei der Entstehung der Verordnung nicht im VordergrundExterner Link. Viel mehr ging es darum, einen Überschuss der Fleisch- und Eierproduktion abzuwenden.

Tierhalter verlieren die Übersicht

«Kühe und Schweine sind soziale Tiere und wollen in Gemeinschaft leben», sagt Beat Wechsler. Er leitet den Fachbereich NutztierhaltungExterner Link beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen und ist spezialisiert auf Wiederkäuer und Schweine. «Solange die Bedürfnisse eines Individuums befriedigt sind, kommt es kaum darauf an, wie viele zusammenleben.»

Vorstellbar sei, dass es Tieren unangenehm sein könnte, wenn sie nicht mehr alle Mitglieder der Gruppe persönlich kennen. Zur Verbindung von Wohlbefinden und Anonymität ist ihm aber keine Forschung bekannt. «Das Problem bei grossen Gruppen ist eher, dass die Tierhaltenden die Übersicht verlieren und nicht erkennen, wenn ein einzelnes Tier besondere Bedürfnisse hat», so Wechsler.

Beat Wechsler
Beat Wechsler vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. zVg

Handlungsbedarf sieht Beat Wechsler bei der Qualität der Liege- und Laufflächen von Kühen in der Schweiz. «Die meisten Liegeplätze in Anbindeställen bestehen aus einer Hartgummimatte, viel besser wäre ein weicher Platz mit Einstreu.» Und die Böden vieler Laufflächen seien schlecht für die Gesundheit der Klauen. Ausserdem sind in der Schweiz Laufställe nicht vorgeschrieben – auch nicht in den Bio-Suisse-Richtlinien. «Angebunden im Stall können Kühe ihr Sozialverhalten aber nicht ausleben», bemängelt Wechsler.

Mindestens in einem Punkt würde eine Annahme der Initiative positive Auswirkungen auf das Leben von Kühen und Schweinen haben: Die Bio-Suisse-Richtlinien schreiben nämlich die Teilnahme am RAUS-Programm vor. RAUS steht für «Regelmässiger Auslauf im Freien» und ist ein Tierwohlprogramm des Bundes, das er seit den neunziger Jahren mit Direktzahlungen finanziell unterstützt. Rinder etwa müssen im Sommer an mindestens 26 Tagen auf die Weide gelassen werden und im Winter 13 Mal pro Monat auf den Laufhof. Auch privatrechtliche Labels von Detailhändlern setzten eine RAUS-Teilnahme voraus.

Nach der Statistik des BundesExterner Link werden 85% der Rinder nach RAUS-Vorgaben gehalten, jedoch nur 50% der Schweine. Bei den Legehennen sind es 85%, bei den Mastpoulets 8%. Allerdings leben in der Schweiz 79 Millionen Mastpoulets und gerade mal 3,4 Millionen Legehennen.

«Fortschrittliche Schweiz»

Beat Wechsler betont, dass die Schweiz «im Grossen und Ganzen fortschrittlich» sei, was die Anforderungen an die Haltung von Kühen und Schweinen betreffe. Die EU zum Beispiel habe keine Vorschriften zur Haltung von Milchvieh, «und nicht jeder Mitgliedstaat hat eigene Gesetze dazu.»

Mit dem Verbot von schnell wachsenden Hybriden bei den Mastpoulets und der Vorschrift, Tieren regelmässig Zugang ins Freie zu gewähren, könnte die Initiative das Wohl der Nutztiere in der Schweiz steigern. Der Grundkonflikt der landwirtschaftlichen Tierhaltung lasse sich aber selbst durch strengere Anforderungen nicht wegdiskutieren, sagt Beat Wechsler: «Jede Tierhaltung, aus der ein ökonomischer Gewinn resultieren soll, ist ein Kompromiss zwischen den natürlichen Bedürfnissen eines Tieres und der Haltungssituation im Stall.» Daran würde auch die Massentierhaltungsinitiative nicht rütteln. Denn die Nutzung an sich von Tieren für menschliche Zwecke hinterfragt die Initiative nicht.

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