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Mathis Wackernagel: «Privilegien und Resignation – ein toxisches Gemisch»

swissinfo.ch

Mathis Wackernagel ist der Schweizer, der den Begriff des "ökologischen Fussabdrucks" erfand und prägte. Er lebt in Kalifornien. Seine Leidenschaft aber geht zurück auf seine Kindheit in der Schweiz. Eine Begegnung.

In unserem Zoom-Gespräch führt mich Mathis Wackernagel durch seine Kindheitserinnerungen in der Schweiz. «Schon als Kind habe ich mich gefragt: Wie können wir die Ressourcen eines begrenzten Planeten unbegrenzt nutzen?», beginnt er. Wackernagel ist in Basel geboren und aufgewachsen. Im Gespräch erwähnt er, dass er schon als Kind gerne seine Ferien auf dem Land verbrachte.

«Wer einen Garten hatte, konnte hoffen»

Es waren offensichtlich prägende Erlebnisse. «Wir machten Sommerferien auf einem Bauernhof. Ab und zu habe ich auch dem Bauern geholfen, eine faszinierende Erfahrung. Ich habe mich schon gefragt: ‹Könnten wir auf einem Bauernhof leben und uns hier mit allem versorgen, was wir brauchen?'»

swissinfo.ch portraitiert Schweizerinnen und Schweizer im Silicon Valley und in der San Francisco Bay, die in ihrem Job oder in ihrem Leben exzellentes leisten. Journalistin Mariangela Mistretta betreut diese Serie.

Auch die Geschichten seiner Eltern und Grosseltern, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, prägten ähnliche Gedanken. «Ihre Erinnerungen an die Lebensmittelknappheit haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Die Schweiz war auf Importe angewiesen und konnte die Versorgung nur für sieben Monate, also für ein Jahr, sicherstellen. Wer einen Gemüsegarten hatte, konnte auf mehr hoffen.»

Dann kam 1973 die Ölkrise. «Die Schweiz lancierte die Initiative für drei autofreie Sonntage im Monat. Wir Kinder durften mit unseren Fahrrädern auf der Autobahn fahren, das war aussergewöhnlich. Ich dachte: ‹Was wäre das für eine tolle Zukunft'». Seine Stimme hebt sich. Nur folgerichtig, dass er sich später für ein Maschinenbaustudium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich entschied.

Mathis Wackernagel mit seinem Velo am Fuss der Golden Gate Bridge. swissinfo.ch

Anfang der 1990er Jahre zog Mathis Wackernagel dann nach Kanada, nach Vancouver, um an der University of British Columbia bei seinem Doktorvater William Rees zu doktorieren. Er vertiefte sich in Gemeinde- und Regionalplanung, was im weiteren Sinn ja das Forschungsfeld seiner Kindheit war. Ihn beeindruckte damals das Buch «Warum sie so arm sind» von Rudolf H. Strahm, sagt er. Zu dieser Zeit entwickelten er und Rees gemeinsam das Konzept des ökologischen Fussabdrucks.

«Velo, Berge, Fondue»

Seit Jahrzehnten arbeitet das Global Footprint NetworkExterner Link mit Regierungen, Unternehmen und internationalen Nichtregierungsorganisationen auf sechs Kontinenten zusammen. Ein Engagement, für das Mathis Wackernagel bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem World Sustainability Award 2018.

swissinfo.ch: Herr Wackernagel, Sie leben seit etwa 20 Jahren mit Ihrer Familie in Oakland. Was schätzen Sie an der Bay Area?

Mathis Wackernagel: Ich mag die kulturelle Vielfalt, die Nähe zum Meer, das wunderbare Klima, den kreativen Geist und die «Can-do»-Einstellung des Silicon Valley, wo es Raum für Ideen und grosse Träume gibt. Ich habe einen eher schweizerischen Lebensstil: Ich fahre Velo, ich wandere in den Bergen. Ich mache gerne Fondue, besonders zu Weihnachten. An der Schweiz vermisse ich unter anderem das öffentliche Verkehrssystem, das absolut aussergewöhnlich ist.

Erzählen Sie uns etwas über den ökologischen Fussabdruck. Was ist die Idee?

Vereinfacht ausgedrückt ist es eine Methode, um die Auswirkungen des Menschen auf die Umwelt zu messen. Wenn der ökologische Fussabdruck die Biokapazität in einer bestimmten Region übersteigt, dann sprechen wir von einem Biokapazitätsdefizit in diesem Gebiet. Anhand des ökologischen Fussabdrucks lässt sich auch abschätzen, wie viele Planeten Erde nötig wären, um die Menschheit oder den Lebensstil einer bestimmten Person, eines Landes oder eines Unternehmens zu erhalten. Jedes Jahr werden die vom Global Footprint Network veröffentlichten Daten in die Berichte von Organisationen wie dem WWF, dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen und anderen aufgenommen.  Auf unserer WebsiteExterner Link können Sie Ihren eigenen ökologischen Fussabdruck berechnen.

«Die Angst, Privilegien zu verlieren, ist immer noch gross.»

Sie kommen zum Schluss, dass über 80 % der Weltbevölkerung in Ländern leben, die ein ökologisches Defizit aufweisen. Können Sie das erklären?

Seit 1970 lebt die Menschheit in einem ökologischen Overshoot; das heisst die jährliche Nachfrage nach Ressourcen übersteigt die Biokapazität der Erde. Nach unseren Berechnungen werden 1,75 Planeten benötigt, um die von der Menschheit produzierten Abfälle aufzunehmen und neue ökologische Ressourcen zu erzeugen. Das bedeutet, dass die Erde ein Jahr und acht Monate braucht, um das zu regenerieren, was wir in einem Jahr verbrauchen.

Leidenschaftlicher Radfahrer: Wackernagel unterwegs. swissinfo.ch

Der Handlungsbedarf ist offensichtlich, doch sind die Fortschritte bei der Bewältigung der Klimakrise klein. Was muss sich ändern?

Wir müssen das Eigeninteresse in den Mittelpunkt unserer Perspektive rücken. Keiner von uns ist ein Zuschauer, wir alle tragen ein hohes persönliches Risiko und ein persönliches Interesse daran, dass sich die Situation verbessert. Selbst unsere Ernährung ist ein Akt des Eigeninteresses, um unser Überleben zu sichern. Wir sollten den gleichen Ansatz für Klima und Umwelt verfolgen. Aber die Angst, seine Privilegien zu verlieren, wenn man einen Wandel einleitet, ist immer noch gross.

Sie sind schon seit Jahren an dieser Front tätig. Erleben Sie manchmal Momente der Entmutigung?

Natürlich gibt es auch bei mir Momente tiefer Frustration. Aber ich bin froh, dass ich mich mit einer Sache beschäftige, die mir am Herzen liegt. Ich versuche, Probleme mit dem Ansatz eines Ingenieurs zu betrachten. Wir müssen nicht in Begriffen wie Hoffnung oder Verzweiflung denken, sondern in dem, was funktionieren kann und was nicht. Ich war schon immer mathematisch veranlagt und habe mir schon als Kind gesagt, dass es unmöglich ist, Ressourcen unendlich zu nutzen. Es ist eine Frage der Organisation.

Kann Untätigkeit auch aus einem Gefühl der Ohnmacht resultieren?

Klar. Wenn man denkt, dass ohnehin alles zu kompliziert ist, wird uns dies demoralisieren, und es wird sich nichts ändern. Wir hingegen glauben an die Macht der Möglichkeiten. Letztes Jahr haben wir die Initiative 100 Tage der Möglichkeiten mit dem Hashtag #movethedate ins Leben gerufen, die zeigt, was man tun kann, um den Earth Overshoot Day zu verschieben. Der Earth Overshoot Day ist ein Indikator für die globale Nicht-Nachhaltigkeit. Er legt den Tag fest, an dem wir nach unseren Berechnungen die natürlichen Ressourcen, die uns der Planet für ein Jahr zur Verfügung stellt, aufgebraucht haben. Letztes Jahr war es der 29. Juli. Im Jahr 2020 war es wegen der Pandemie besser, aber dann sind wir wieder zu den alten Standards zurückgekehrt. Am 5. Juni werden wir das Datum für das Jahr 2022 bekannt geben.

Der Konflikt in der Ukraine zeigt uns noch deutlicher, wie abhängig die Länder von fossilen Brennstoffen sind. Hätte die EU mehr in erneuerbare Energien investiert, wäre es einfacher gewesen, die Beziehungen zu Russland zu kappen. Es ist ziemlich absurd, dass sich der Verbrauch fossiler Brennstoffe seit der Unterzeichnung der Klimakonvention in Rio 1992 durch die meisten Länder verdoppelt hat. Deutschland hat in die Energiewende investiert, aber so langsam, dass es kaum auffällt. Und so musste die EU im Februar 2022 überrascht feststellen, dass die Hälfte ihres Erdgases aus Russland kommt.

Wie gross ist der ökologische Fussabdruck der Schweiz heute?

In der Schweiz leben wir, als ob uns drei Planeten Erde zur Verfügung stünden. Es gibt jedoch viele interessante Initiativen, um bis 2050 eine grüne Wirtschaft zu erreichen, in der wir auf einem einzigen Planeten leben sollten. Wie viele andere Länder sind wir privilegiert, weil wir so viele Ressourcen zur Verfügung haben. Aber für eine Person in der Schweiz, die Dreiviertel eines Kuchens konsumiert, gibt es drei Personen in einem anderen Teil der Welt, die zusammen einen Viertel haben. Das ist nicht nachhaltig.

«Wir sollten es uns selbst zuliebe tun»

Dann erzählt uns Mathis Wackernagel, dass er von Greta Thunbergs Worten so berührt war, als er sie zum ersten Mal sah. So sehr, dass er seine Grundschullehrerin in der Schweiz anrief, mit der er immer noch eng befreundet ist, um davon zu erzählen.

«Ich finde, die giftigste Kombination besteht aus Privilegien und Resignation. Wenn es schon zu schwierig erscheint, einen Wandel für die Umwelt herbeizuführen, sollten wir es wenigstens uns selbst zuliebe tun», betont er nochmals.

Covid habe vielen eine Lektion erteilt: Indem wir uns selbst schützen, haben wir andere geschützt. Auch beim Klima gehe es um das Wohl jedes einzelnen Menschen.

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