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Mein bester Freund, der Wald

Wo die einen Ruhe suchen, wollen sich die anderen austoben können, wie dieser Downhill-Biker. Die Nutzungskonflikte im von allen geschätzten "Erholungsraum Wald" nehmen zu. Keystone / Alessandro Della Bella

Mehr Menschen denn je gehen in der Schweiz regelmässig in den Wald – fühlen sich aber häufiger als früher gestört von anderen Menschen, die in den Wald gehen. Eine kleine Exkursion zu den Konfliktzonen in der Beziehung zwischen Mensch und Wald.

Eine ganz typisch schweizerische Tätigkeit? Weder Fondue essen noch wandern, sondern: in den Wald gehen. 95 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer – also praktisch alle – besuchen gemäss dem im März 2022 publizierten Waldmonitoring der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) mehr oder weniger regelmässig einen Wald. So viele wie noch nie, seit man 1997 begann, das Verhältnis der Bevölkerung zum Wald wissenschaftlich zu untersuchen.

Allerdings ist «in den Wald gehen» in der heutigen Schweiz nicht mehr unbedingt das Gleiche wie vor 25 Jahren, als man dort höchstens Vita-Parcours-Infrastruktur antraf. Menschen und Wälder verändern sich. Die Ansprüche an den Wald wachsen, weil er als unantastbares Naturrefugium angesichts der ausufernden Siedlungsfläche existenzieller wird. Gleichzeitig machen Klimaerwärmung und Wetterextreme den Wald fragiler – und das führt mitunter zu sozialem Stress im Wald, wo man eigentlich ruhig werden wollte.

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«Der Wald braucht unsere Hilfe!» Das schrieb Katrin Sedlmayer, frühere Lokalpolitikerin in der Gemeinde Köniz bei Bern, vor einem halben Jahr aufgebracht unter einen Protestbrief, den gut 400 ebenso empörte Personen unterzeichneten. Die Kritiker verlangten einen Stopp von angeblich unökologischen «Kahlschlägen» grosser Flächen im vielbesuchten Naherholungswald am Könizberg.

Der Könizbergwald liegt zwischen den Gemeinden Bern und Köniz, er wirkt wie eine grüne Insel, an dessen Ufer das steigende Agglomerationsmeer brandet. In den letzten Jahren entstand einen Steinwurf vom Waldrand entfernt zusätzlich eine grosse Siedlung für 2000 Einwohnerinnen und Einwohner. Der Andrang jener, die den Wald aufsuchen, wächst unaufhaltsam.

Besonders in Stadtnähe ist der Schweizer Wald oft auch die Arena für Kinder, die lernen, forschen und erleben. © Keystone / Melanie Duchene

Der Könizbergwald gehört der Burgergemeinde Bern, der drittgrössten Waldbesitzerin der Schweiz. Als Antwort auf die Kritik an ihrer Waldpflegepraxis holte sie sich Rückendeckung bei der Aufsichtsbehörde des Kantons Bern und präsentierte Anfang Mai ein Gutachten.

Dieses attestiert ihr einen gesetzeskonformen Umgang mit dem Wald, der auch vom Klima herausgefordert wird. Winterstürme, Borkenkäfer und Trockenheit setzten dem Wald zunehmend zu, weshalb grossflächige Eingriffe nötig, legitim und ökologisch sogar weitsichtig seien, befanden die Experten.

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Denn bei dieser Gelegenheit pflanze man vermehrt Baumarten, die resistenter gegen die Klimaerwärmung seien als die hitzeanfällige Fichte.

Widersprüche der Nutzung

Diese Kontroverse um den Könizbergwald ist ein lokales Beispiel für den wachsenden Druck, der auf allen Wäldern im dichtbesiedelten Schweizer Mittelland lastet. Das seit 1876 geltende nationale Rodungsverbot – wohl die radikalste und wirkungsvollste Naturschutzregelung, die sich die Schweiz je gegeben hat – schützt die Wälder hermetisch vor Verkleinerung. Aber nicht vor den Widersprüchen ihrer Nutzung.

Die Burgergemeide Bern, der weitere stadtnahe Erholungswälder gehören, stellt in ihren Wäldern inzwischen Platz zur Verfügung für BikeTrails, Finnenbahnen oder WaldKindertagesstätten. Sie scheidet aber auch Waldreservate aus, in denen Totholz zur Förderung der Biodiversität liegengelassen wird.

Sie fühlt sich nach eigenen Angaben genötigt, ihre Kommunikationsanstrengungen zu verstärken, um den Menschen zu erklären, wie breit gefächert die gesellschaftlichen Bedürfnisse an den Wald heute sind. Abgesehen davon, dass auch die Nutzung von Holz als einheimischer Baustoff und Energieträger eine immer wichtigere Rolle spielt. 

Der Wald ist wie ein Freund, der immer da ist, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. © Keystone / Christian Beutler

Dass der Wald, der von mehr Menschen denn je besucht wird, auch mehr denn je leisten muss, wirkt sich auf die Zufriedenheit ihrer Nutzerinnen und Nutzer aus. Wir wollen im Wald frei sein, durchatmen, abschalten, Tiere beobachten. Aber gleichzeitig auch Paintball spielen, in Seilparks herumturnen, einen OL laufen, Cervelats bräteln, draussen übernachten. Wir suchen Ruhe, wir wollen uns austoben. Oft am gleichen Ort im Wald.

Rückzugsort für den Notfall

Laut der WSL-Befragung, die noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie durchgeführt wurde, geben deutlich weniger Waldbesucher als vor zehn Jahren an, sich nie gestört zu fühlen. Zwar bleibt die Zufriedenheit nach dem Waldbesuch hoch, die Menschen fühlen sich erholt nach der Rückkehr. Aber: Liegengelassener Abfall, rasende Biker oder wummernder Partylärm beeinträchtigen das Walderlebnis.

Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Pandemie dürfte diese konfliktuöse Konstellation noch verstärkt haben. Plötzlich begegnete man Menschen an Stellen im Wald, an denen man vorher mutterseelenallein war. Jugendliche entdeckten abgelegene Winkel im Wald als Möglichkeit, es an sogenannten «Sauvages» eine Nacht lang krachen zu lassen. Es fühlte sich an, als sei der Wald der einzige Ort, an dem man der Krise für einen Moment entkommen konnte.

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Auf den Punkt brachte diese Gefühlslage der Schweizer Survival-Trainer Gian Saluz in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte: Im Ernstfall, hielt er fest, würde er sich in einen Wald zurückziehen. Weil: Der Wald biete in einer Notsituation am meisten Ressourcen zum Überleben.

Alleine sein

Der Wald ist wie ein Freund, der immer da ist, auf den man sich in schwierigen Zeiten verlassen kann, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt – sicher nicht durch Alltag und Leistungsdruck, die auf die Seele drücken. Als Grund, warum sie einen Wald aufsuchen, geben viele Menschen laut der WSL-Untersuchung an, Natur erleben, Abstand gewinnen, allein sein zu wollen. Man könnte auch sagen: der Zivilisation zu entfliehen.

Zum Beispiel so: Nur zwölf Kilometer vom Bundeshaus in Bern entfernt Richtung Süden öffnet sich unter der Strasse nach Schwarzenburg eine tiefe, bewaldete Schlucht. Als sich vor 20 000 Jahren der Rhonegletscher zurückzog, schürfte das Schmelzwasser den verwinkelten Graben in den weichen Sandstein. Wegen der dunklen Wälder, die ihn säumen, heisst das ungezähmte Flüsschen, das darin fliesst, Schwarzwasser.

Der waldige, wilde Schwarzwassergraben als Kontrast zu den parkähnlichen Wäldern in Stadtnähe: Die Veränderungen erfolgen hier rasch. Nie sieht es aus, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Jürg Steiner

Hinten im Tal wird der Wald immer verwunschener, links und rechts geht es unwirklich steil in die Höhe. Der Himmel? Verschwunden. Die Erde wird wie von Geisterhand bewegt, nie sieht es aus, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Schlammpakete gleiten nach Regengüssen samt Vegetation in den Abgrund. Entwurzelte Bäume ragen wie Skelettreste in die Luft und modern vor sich hin. Manchmal begegnet man einem Fuchs, ein paar Gämsen oder Rehen. Und sehr selten Menschen.

Es ist ein wirklich grossartiger, wilder Wald, zuverlässig wie der beste Freund. Die Welt, aus der man kam, ist weit weg, und doch ist man in ein paar Schritten zurück.

Dieser Artikel wurde zuerst von der Schweizer RevueExterner Link veröffentlicht.

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