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Martin Schläpfer: Lobbyist für einen der grössten Schweizer Supermärkte

Schläpfer von weitem
Thomas Kern/swissinfo.ch

Einst war Martin Schläpfer das Gesicht der Migros im Schweizer Parlament. SWI swissinfo.ch erklärt er die Prinzipien des Migros-Gründers und wie man als Lobbyist ein Gesetz durchbringt.

Bist du ein «Migros-Kind» oder ein «Coop-Kind»? Die Frage gehört zum Schweizer Alltag. Sie zielt darauf, in welchem Supermarkt die Familie hauptsächlich einkauft, doch sie reicht darüber hinaus: Die Identifikation mit den beiden Unternehmen ist gross in der Schweiz, der Einkauf eine Glaubensfrage.

Martin Schläpfer, geboren 1955, ist neben einer Migros aufgewachsen. Als er ein Kind war, war ihr Gründer Gottlieb Duttweiler oft Thema in der Familie. «Solange ich denken kann, war mir bewusst, dass «Dutti» nicht nur ein genialer Kaufmann war, sondern auch ein Mann mit einer politischen Agenda und Ideen, was er alles in diesem Land verändern wollte.»

Coop und Migros sind beide in Genossenschaften organisiert – und darum millionenfach in der Bevölkerung verwurzelt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung der Schweiz ist Migros-Mitglied. Eine Mitgliedschaft ist gratis. Bei Coop sind es sogar etwas mehr Mitglieder, obwohl man pro Jahr zehn Franken zahlt.

Im Bundeshaus im Dienst der Migros

Schläpfer arbeitete für die Migros – doch nicht an der Supermarktkasse: Von 2003 bis 2018 lobbyierte er für die Migros im Bundeshaus. Er war der letzte Migros-Mann im Bundeshaus. Die Migros, die früher mit einer eigenen Partei in der Schweizer Politik mitmischte, schickt heute keine Lobbyist:innen mehr ins Parlament.

Martin Schläpfer im Schweizer Parlament, dem Bundeshaus
Alessandro Della Valle/Keystone

Schläpfer erzählt SWI swissinfo.ch bei Kaffee und Gebäck, wie er die Interessen des Unternehmens in die Politik getragen hat.

SWI swissinfo.ch: Wie gingen Sie vor, wenn Sie als Lobbyist etwas wollten?

Martin Schläpfer: Ganz normal. Ich doziere heute über Politik und Lobbyismus. Vieles ist politische Intuition und Erfahrung. Ob man sich mit Ladenöffnungszeiten oder Landwirtschaft befasst, macht einen Unterschied. Doch es gibt gewissermassen ein Vorgehen nach Handbuch.

Wie sieht das aus?

Am Anfang steht die Frage, ob der Bundesrat für oder gegen ein Anliegen ist. Die Methode ist mit Rückendeckung von Regierung und Verwaltung völlig anders als ohne.

Gab es denn Dinge, die Sie gegen den Willen der Regierung durchbringen konnten?

Ja, die Parallelimporte, also die Liberalisierung der Warenimporte. Da standen wir zusammen mit den Konsumentenschützerinnen und -schützern und setzten uns gegen Justizminister Christoph Blocher durch. Die Migros ist eine unglaublich starke Marke. Sie hat mehr Durchschlagskraft als ein Branchenverband. Wenn die Migros etwas will, wird es immer Thema der Boulevard-Medien – ganz automatisch. Anders als bei Marken, die man weniger kennt.

In Rankings zu den beliebtesten Marken der Schweiz erreicht die Migros regelmässig den ersten Platz. 2023 ist sie auf Platz 2 abgerutscht. Weiterhin gilt: Die Migros stiftet Identität, ihre Erkennungsfarbe ist Orange. Das Migros-Magazin gehört zu den Magazinen mit der höchsten Auflage und auf der «Migipedia»-Plattform diskutieren Kund:innen – über die Qualität von Tiefkühlmeeresfrüchten oder Marronijoghurts.

Die Migros ist eine der grössten Arbeitgeberinnen der Schweiz: 100‘000 Menschen aus 170 Nationen arbeiten für Migros-Unternehmen – die allermeisten von der Schweiz aus. Umsatzmässig war das Jahr 2022 ein Allzeitrekord: 30,1 Milliarden Franken, erwirtschaftet in den Supermärkten, aber auch von Unternehmenszweigen in der Reise-, Gastro- und Gesundheitsbranche.

Alkoholfreie Läden

Auch nach seiner Pensionierung hat Schläpfer die Migros nicht komplett hinter sich gelassen. Seine Loyalität gilt nicht dem heutigen Unternehmen, sondern den Idealen, die er mit der Migros verbindet.

Schläpfer durch ein Glas fotografiert.
Thomas Kern/swissinfo.ch

2003 setzte ich darauf, dass sich die Migros – im Sinne ihres Gründers – wieder mehr für die Interessen der Konsument:innen engagiert. Aber natürlich versuchten wir nicht, den Duttweiler zu interpretieren, wie es die Theologie mit der Bibel tut. Er vertrat aber klare Werte.

Welche waren das?
Das Alkoholverbot, vor allem. Bis heute vergibt die Migros ja gewisse Anteile ihres Umsatzes als Förderungen an die Kultur und soziale Engagements. Das politische Engagement ist heute nicht mehr so verankert. Doch das Ergebnis der Alkoholabstimmung zeigt eigentlich, dass Duttis Kernbotschaft bei der Leitung weniger präsent ist als an der Genossenschaftsbasis.

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In den Migros-Statuten steht das Alkoholverkaufsverbot seit 1928. Als die Führung der Migros-Gruppe 2022 beginnen wollte, Alkohol in den Filialen zu verkaufen, konnten die rund 2,3 Millionen Migros-Genossenschafter:innen darüber abstimmen.

Zusammen mit anderen früheren Führungskräften startete Schläpfer eine Nein-Kampagne, er wollte keinen Alkohol in den Migros-Regalen. Auch die grosse Mehrheit der 630’000 Genossenschafter:innen, die dann tatsächlich abgestimmt hatten, sahen das so.

Hinterher titelten Schweizer Medien: «Die Abstimmung war der grösste PR-Coup des Jahres.» Die Abstimmung habe der Migros Aufmerksamkeit beschert. Dass Hunderttausende mitstimmten, habe das Unternehmen gestärkt.

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Alkoholverkauf in einem Migrolino

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Die Migros und die Alkoholfrage

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Detailhändler diskutiert über den Alkoholverkauf. Eine abstinente Geschichte über Prinzipien, Gewinne – und den Vorwurf der Heuchelei.

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Schläpfer sieht hingegen keinen PR-Coup:

Die Abstimmung war kein Demokratie-Test, anders, als es die Migros-Leitung bezeichnet hat. Die Führung hatte materielle Interessen: Im Sommer verkauft die Migros anteilsmässig weniger Fleisch als die Konkurrenz. Diejenigen, die fürs Grillfest einkaufen, gehen eher in Läden, wo es auch Alkohol gibt. Die Migros-Führung ist mit ihrem Projekt gescheitert.

Die Discounterkette Denner gehört zur Migros. Dort wird Alkohol verkauft. Wenn sie ohnehin am Alkohol verdient, warum ist es denn wichtig, dass die Migros selbst keinen Alkohol verkauft?

Die über 600 Migros-Filialen sind alkoholfrei. Das ist auch für suchtkranke Menschen wichtig. Sie wissen, dass einem beim Einkauf in der Migros kein Alkohol begegnet.

Mann blickt in die Kamera
Thomas Kern/swissinfo.ch

Franchisenehmer Aserbaidschan

Wegen dem Alkohol bei Denner wird der Migros manchmal Heuchelei vorgeworfen. Auch aus anderen Gründen steht die Migros regelmässig in der Kritik, etwa wegen den Tankstellenshops der Migros, den Migrolino-Läden. Diese verkaufen ebenfalls Alkohol. Doch die Vorwürfe betreffen vor allem das Geschäft mit einer Diktatur.

60 Migrolino-Läden werden per Franchisevertrag vom aserbaidschanischen Staatskonzern Socar betrieben. Gemässigte und linke Politiker:innen hinterfragen im Schweizer Parlament seit Jahren, ob die Migrolino-Einkäufe die Aggressionen Aserbaidschans gegen Armenier:innen finanzieren.

Schläpfer blickt nach links.
Thomas Kern/swissinfo.ch

Schläpfer will dazu keine Stellung nehmen. Aber er sieht es als Nachteil, wenn keine Person mehr die Migros-Anliegen im Parlament vertritt.

Als Lobbyist vor Ort habe man Vorteile.

Beim Lobbying ist das Informelle enorm wichtig. Anders, als wenn Sie Mails rumschicken.

Weil Mails oft öffentlich werden?

Ja. Und wegen der Menge: Warum sollte ein Parteipräsident mit 200 ungeöffneten Mails ausgerechnet das 201. öffnen?

Haben Sie manchmal Wut abbekommen?

Eindeutig, aber nur in Einzelfällen. Auch von den Bauern. Aber selbst für die Agrarbranche, die lange im Konflikt mit der Migros steht, haben wir eine Versammlung gemacht. Das ist eine Genossenschaft. Genossenschaft bedeutet Gesprächsfähigkeit gegenüber den Anspruchsgruppen. Der gesellschaftliche Stellenwert der Migros hängt auch mit ihrer Genossenschaftsstruktur zusammen. Da kann man Forderungen platzieren. Die Migros ist eben nicht kapitalistisch.

Was soll das heissen, «nicht kapitalistisch»?

Sie ist keine Aktiengesellschaft, die primär den Aktionär:innen dient.

Martin Schläpfer blickt nach rechts
Thomas Kern/swissinfo.ch

Die Migros erwirtschaftet doch genauso Gewinne – von den Kund:innen und in den Produktpreisen gegenüber der Landwirtschaft.

Der Unterschied liegt darin, dass alle Mitglieder eine Stimme haben. In einer AG kann einer alleine 51% haben und alles entscheiden. Eine AG ist ideologisch aufgeladen – als Sinnbild des Kapitalismus, die Organisationsform des Kapitalismus ist die Aktie.

Genossenschaft verpflichtet: Der Migros-Gründer Dutti hätte während Corona eine Idee lanciert für speziell belastete Gruppen. Es hätte von der Migros was gebraucht in der Pandemie. Das ist meine Meinung.

Und bei der Inflation jetzt sollte die Migros was für die Bauern machen?

Ich weiss nicht, ob die Bauern so arm sind. Das müsste man nochmals vertieft anschauen.

Eine Migros-Antwort. 2025 feiert die Migros ihr hundertjähriges Bestehen. Man bleibt gespannt, mit welchen Einfällen sie dann ihr Jubiläum begeht und ihre Identität pflegt.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Benjamin von Wyl

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Editiert von David Eugster.

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