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Schweizer Presse: «Die Angst darf nicht siegen»

Trauer und Solidarität, aber auch eine gewisse Ohnmacht. Das ist der Tenor in den Schweizer Medien nach den blutigen Anschlägen in Brüssel. Keystone

"Europa ins Herz getroffen", "Anschlag gegen Freiheit und Offenheit", "Molenbeek ist überall". Die Schweizer Medien kommen in ihren Kommentaren und Analysen zu einem ähnlichen Schluss: Die Anschläge islamistischer Terroristen galten nicht nur der belgischen Hauptstadt, sondern "unserer offenen Gesellschaft". Aber auch wenn es noch kein Rezept gegen Terror gebe, dürfe die Angst nicht siegen.

«Die Blutspur des Terrors, der sich auf einen falsch verstandenen Islam beruft, folgt einer schrecklichen Logik: der Ablehnung der westlichen oder der verwestlichten Gesellschaft, den Rachegefühlen, dem blanken Hass auf sie», schreibt der Kommentator des Bündner Tagblatts unter dem Titel «Wenn aus Rachegefühl und Hass Terror wird…»

Der Terror des IS und seiner Adepten in Europa sei wahllos. Auch den Terroristen müsse doch klar sein, «dass sie mit einem Sprengsatz im Morgenverkehr einer U-Bahn oder in der Abflughalle eines Flughafens keine politischen Ziele herbeibomben können, nicht das Signal zu Aufstand und Revolution, nicht den Sturz des Staatswesens und nicht im entferntesten die Umwandlung dieser Gesellschaften in eine radikalislamische».

Auch wenn dieser Terror seine Ausbildung zu diesem blutigen Handwerk und sein Material aus den nahöstlichen Pulverfässern beziehe, sei er weitgehend hausgemacht. «Seine Ausführenden sind belgische, französische, englische Staatsbürger, aufgewachsen in den Parallelgesellschaften, die sich über die Jahre hinweg in London, Paris und Brüssel an den Stadträndern herangebildet haben und in denen die gemeinsame soziale Unterschicht und die gemeinsame islamische Konfession zum Unterscheidungsmerkmal und zum Kitt gegenüber dem Rest der Grossstadt geworden sind», so das Bündner Tagblatt.

«Wo dann durch Ablehnung und Diskriminierung dieses finstere Ressentiment, dieser tiefe Hass, diese unsäglichen Rachegefühle entstanden sind, die einen jungen Belgier oder Franzosen marokkanischer oder algerischer Abstammung dazu bringen, zusammen mit gleich fühlenden Kumpanen Hunderte von schuldlosen Menschen aus dieser ‹Gesellschaft der anderen› wahllos zu töten.»

Die Terroristen hätten ein «weiches Ziel» getroffen, schreibt der Bündner Kommentator. «Brüssel ist eine der liberalsten, tolerantesten Grossstädte der Welt, wo das ‹Laisser aller, laissez-faire› in Lebensart, Gastronomie und Nachtleben einsame Höhepunkte kennt.»

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Fatalismus

Viele offene Fragen und eine gewisse Ohnmacht. Das ist der Tenor in vielen Zeitungen. Bereits «am Ende des Lateins» ist die Basler Zeitung (BaZ), die Europa «auf verlorenem Posten» sieht.

«Es gibt keinen absoluten Schutz gegen diese Art von Terrorismus, dessen unschlagbare Waffe das Opfer des eigenen Lebens ist. Es genügt die Besessenheit einer Ideologie, Sprengstoff, die Unzufriedenheit des Seins in einem Land, in dem man sich nicht mal als Bürger zweiter Klasse fühlt, die Aussicht auf 72 Jungfrauen nach dem grossen Knall und eine Menschenschlange vor einem Check-in-Schalter in einer Abflughalle, um Rache zu üben und Vergeltung und in den eigenen Kreisen unsterblich zu werden», schreibt die BaZ. Ihr Fazit: «Wir sind am Ende unseres Lateins, wir sind besiegt.»

«Und wenn die Terroristen daran sind, den Krieg zu gewinnen?», fragt die Westschweizer Zeitung Le Temps. Die Sicherheitskräfte seien seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo vor einem Jahr trotz erhöhter Alarmbereitschaft und Zusammenarbeit nicht erfolgreich gewesen. Wenn der Islamische Staat gewillt sei zuzuschlagen, sei heute niemand in der Lage, seine fanatischen Soldaten zu stoppen, schreibt die in Genf beheimatete Zeitung fatalistisch.

Auch 24heures aus Lausanne schätzt, dass «der Krebs der islamistischen Devianz bleiben und seine Hassausbrüche, seine Bomben und Salven, seine Gewalt sich anderswo wiederholen werden».

Die gleiche Machtlosigkeit ist auch im Le Courrier zu spüren. Diese Aktionen bedingten nur ein minimales Know-how, den Zugang zu gewissen Waffen und eine Dosis Selbstzerstörungstrieb. Viel Kompetenz und Intelligenz brauche es nicht, schreibt die Genfer Tageszeitung und malt den Teufel an die Wand: «Wenn ein gut geschultes und mit modernen Waffen dotiertes Kommando eines Tages das Stade de France während eines Spiels attackieren würde, wäre das Resultat noch verhängnisvoller.» 

«Zu wenig Europa»

Ziel der Attentäter sei ein Europa, das sich abschotte und in Angst erstarre, schreibt der Tages-Anzeiger. «Die Terroristen wollen Hysterie und Panik unter den Europäern verbreiten. Sie wollen das Misstrauen zwischen den Europäern und Zuwanderern verstärken in den Vororten, die Gräben vertiefen.» Terrorgefahr und Flüchtlinge, dieses Amalgam werde jetzt noch öfter gemacht werden als zuvor und den Gegnern eines vereinten Europas helfen.

Aber den Bürgern drohe nicht Gefahr wegen zu viel Europa, so der Kommentator im Tages-Anzeiger, sondern wegen zu wenig Europa. «Ein Europa, das zerfällt und fragmentiert, wäre noch blinder und ungeschützter gegenüber dieser Bedrohung.»

Dass die politische Stimmungsmache schon wenige Minuten nach den Anschlägen begann, stellt auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) fest. Genau dies sei aber das Ziel der Terroristen. «Sie wollen Europa schwächen und seine demokratischen Gesellschaften spalten. Deshalb braucht es gerade jetzt Ruhe, aber auch eine besonnene und entschlossene Reaktion auf mehreren Ebenen: lokal, national und international.»

Kurzfristig stünden verschärfte Sicherheitsmassnahmen und Gesetze, verbesserter Datenaustausch und Informationsfluss im Vordergrund. Auch der Schutz der EU-Aussengrenze gehöre dazu. Aber allein damit liessen sich Terroranschläge nie ganz verhindern.

«Um das Problem langfristig zu lösen, muss den Islamisten in Europa, aber auch weltweit der Nährboden entzogen werden. Im Westen bedeutet dies, dass entstandene Parallelgesellschaften aufgebrochen werden und die Bildung neuer Ghettos verhindert wird. Das kann nur gelingen, wenn das dominierende Laisser-faire-Prinzip der Integrationspolitik überdacht wird.»

Der Staat müsse unter anderem mit einer gezielten Bildungspolitik und Städteplanung dafür sorgen, dass Schulklassen und Wohngebiete gut durchmischt sind. «Nur so dürfte es gelingen, Kindern aus bildungsfernen Familien eine Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg zu geben. Nur so ist zu verhindern, dass in Europa Gesellschaften mit ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen und Weltsichten entstehen», so die NZZ.

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