Nestlé will in Brasilien die Essensmarken kürzen
Der Schweizer Konzern feiert sein 100-jähriges Bestehen in Brasilien. Doch weil die Lebensmittelpreise aufgrund der sich im Land drastisch verschärfenden Pandemiesituation steigen, müssen die ärmsten Arbeiter und Arbeiterinnen mit Kürzungen der Lebensmittel-Gutscheine rechnen.
Seit hundert Jahren geschäftet Nestlé in Brasilien – heute der fünftgrösste Markt für Nestlé mit einem Umsatz von 2,79 Milliarden Frankenim Jahr 2020. Eigentlich sollte das ein Grund zum Feiern sein. Stattdessen zieht der Schweizer Lebensmittel-Hersteller den Unmut der Gewerkschaften im südamerikanischen Land auf sich.
In seiner Schokoladenfabrik in Vila Velha (eine der 31 brasilianischen Niederlassungen) im Bundesstaat Espírito Santo im Südosten des Landes plant das Unternehmen, die Vergünstigungen für Lebensmittelgutscheine zu halbieren – von BRL 680 (115 Fr.) auf BRL 350 (59 Fr.) – ausgerechnet, nachdem es den Anteil der an die Arbeiter und Arbeiterinnen weitergegebenen Gewinne reduziert hat.
Die Fabrik stellt Garoto-Schokoladen her – eine beliebte Marke, die 2001 von Nestlé übernommen wurde und den Schweizer Lebensmittelriesen damals zum Marktführer auf dem brasilianischen Schokoladenmarkt machte.
«Dass dies während der Covid-19-Pandemie passieren soll, ist wirklich ungeheuerlich. Wir werden Widerstand leisten und notfalls sogar streiken», sagt Linda Morais, die lokale Gewerkschaftsvorsitzende.
Der Entscheid, die Essenszuschüsse zu kürzen, wurde im Januar kommuniziert, wurde aber von den Mitarbeitenden der Fabrik abgelehnt. Die Ankündigung kam zu einer Zeit, in der Nestlé in Brasilien ansehnliche Ergebnisse erzielte: 2020 stieg der Umsatz um 5,7% im Vergleich zu 2019 (in brasilianischen Reais), so der jüngste Jahresbericht des Unternehmens.
Landesweite Kürzungen
Die Kürzungen in der Fabrik in Vila Velha, einer Stadt mit rund 500’000 Einwohnerinnen und Einwohnern, sind kein Einzelfall. Zwei Schokoladen- und Milchprodukt-Stätten in Feira de Santana, im Bundesstaat Bahia im Nordosten des Landes, waren ebenfalls betroffen. Im vergangenen November reduzierte das Unternehmen die Gewinnbeteiligung und halbierte den Wert der Lebensmittel-Bons für mehr als 600 Mitarbeitende.
«Das trifft vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Produktion, die weniger verdienen und die Mehrheit der Belegschaft ausmachen. Aus Sorge vor möglichen Entlassungen mussten wir dem Vorschlag des Unternehmens zustimmen», sagt Eduardo Sodré, Direktor der Gewerkschaft der Lebensmittel-Arbeiter (Sindialimentação), die im Bundesstaat Bahia mit dem Unternehmen verhandelt.
Ihm zufolge hat Nestlé im vergangenen Jahr mehr als 100 Mitarbeitende in den Werken von Feira de Santana entlassen und zusätzlich eine weitere Einheit in Itabuna geschlossen, einer Stadt 350 km südlich.
«Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit im Land [14% im Jahr 2020] fühlten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter unsicher. Wir hatten keinen Ausweg», sagt Sodré.
Nahrungsmittel-Hilfe
In Brasilien ist die Lebensmittel-Hilfe in Form von Gutscheinen, die Mitarbeitende in Supermärkten gegen Produkte eintauschen können, nicht verpflichtend, wird von Unternehmen aber in der Regel als Leistung angeboten. Sie ergänzt das Gehalt der Arbeitenden und kann ein Rettungsanker für Niedriglohn-Angestellte sein.
Der Verlust des Lebensmittel-Zuschusses kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Brasilien sieht sich mit einer sich verschlimmernden Covid-19-Pandemie konfrontiert, die bereits über 310’000 Tote gefordert hat.
Viele Städte, darunter auch Vila Velha, wo die Schokoladenfabrik Garoto steht, haben Lockdown-Massnahmen beschlossen, welche die Mobilität einschränken, und Geschäfte wie Restaurants und Bars schliessen lassen. Hinzu kommt ein kontinuierlicher Anstieg der Lebensmittelpreise, der vor allem die Arbeitnehmenden im Niedriglohn-Bereich trifft.
So stiegen beispielsweise die Preise für Reis und Bohnen, welche die Grundnahrungsmittel der meisten Brasilianer und Brasilianerinnen sind, im Jahr 2020 um 76 bzw. 45%. Dies liegt deutlich über der durchschnittlichen nationalen Inflationsrate, die 4,5% erreichte.
Andere wichtige Produkte wie Fleisch, Speiseöl und Zucker sind in den letzten Monaten ebenfalls teurer geworden. Die Abwertung des brasilianischen Real, saisonale Faktoren und der Anstieg der Lebensmittel-Exporte in den letzten Jahren, erklären die Unterschiede.
Arbeitsplätze oder Vorteile
Obwohl Nestlé Brasilien ein einzelnes Unternehmen ist, werden die Arbeitsverhandlungen regional mit verschiedenen Gewerkschaften geführt: Sie finden Fabrik für Fabrik statt. Nach Angaben von Gewerkschaftsmitgliedern begannen die Kürzungen der Lebensmittelzulagen zuerst in São Paulo, wo das Unternehmen die Hälfte seiner Belegschaft beschäftigt.
Im Jahr 2019 entliess das Unternehmen dort mehr als 200 Arbeiter und Arbeiterinnen, musste sie aber nach einem Gerichtsbeschluss wieder einstellen. Im Gegenzug mussten die Gewerkschaften jedoch eine Vereinbarung akzeptieren, welche die Leistungen für die Mitarbeitenden reduzierte, einschliesslich der Lebensmittel-Gutscheine.
«Angesichts der stetig steigenden Arbeitslosigkeit im Land hatten wir keine Alternative», sagt Artur Júnior, Vizepräsident der Nationalen Konföderation der Angestellten in der Lebensmittel-Industrie und verwandten Branchen (CNTA Afins). Die Organisation vertritt einige Gewerkschaften, die mit dem Unternehmen verhandeln.
Laut Júnior nutzt Nestlé, wie viele andere grosse Unternehmen, die brasilianische Arbeitsreform, die 2017 vom Nationalkongress verabschiedet wurde. Die Reform reduzierte die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, indem sie die Möglichkeit zur Auslagerung von Arbeit ausweitete, was Entlassungen Tür und Tor öffnet.
Die Reform, eine umfassende Überarbeitung der brasilianischen Arbeitsgesetze, die seit über 70 Jahren unverändert bestanden, hat auch die Gewerkschaftssteuer abgeschafft und damit eine wichtige Finanzierungsquelle für die Gewerkschaften im Land beseitigt.
«Eine Arbeitskampagne aktiv zu halten, ist kostspielig. Man muss ein funktionierendes Auto haben, Flugblätter drucken, Inhalte für soziale Medien produzieren. Mitten in einer Covid-Pandemie wird all das noch schwieriger. Aber wir werden die Kürzungen der Lebensmittel-Hilfe weiter in Frage stellen, soweit wir können», sagt Morais von der örtlichen Gewerkschaft in Vila Velha.
Bessere Zukunft?
Die erste Nestlé-Fabrik in Brasilien wurde 1921 in Araras im Bundesstaat São Paulo errichtet, um Kondensmilch zu produzieren. Heute beschäftigt das Unternehmen mehr als 20’000 Mitarbeitende und verfügt über Produktionsstätten in acht brasilianischen Bundesstaaten und 25 Städten. Anlässlich der einhundertjährigen Präsenz im Land hat das Unternehmen eine Werbekampagne mit dem Motto «eine bessere Zukunft fördern» gestartet.
Doch für viele Angestellte ist es schwierig, während der Pandemie überhaupt das Essen auf den Tisch zu bringen. Beispielsweise für den 32-jährigen Ronivaldo de Jesus Almeida, einen Lagerarbeiter in der Nestlé-Fabrik in Vila Velha. Der von der Firma zur Verfügung gestellte Lebensmittel-Gutschein entspricht etwa einem Drittel des Werts seines Gehalts von 1944 BRL (322 Fr.).
«Ich gebe das Geld des Gutscheins für grundlegende Hygieneprodukte und zur Ergänzung des Lebensmittel-Budgets zu Hause aus. Eine Kürzung dieser Leistung um die Hälfte bedeutet, dass ich kein Fleisch mehr kaufen kann und vielleicht nicht einmal Eier, die im Supermarkt gerade sehr teuer sind», sagt er.
Wie die meisten brasilianischen Frauen hat auch Almeidas Frau kein festes Einkommen, und die Familie muss ausserdem eine Tochter versorgen. Nachdem sie ein Jahrzehnt lang in der Fabrik in Vila Velha gearbeitet hat, empfindet Almeida die Kürzung der Lebensmittel-Zuschüsse als «respektlos».
Auf seiner Website behauptet Nestlé, dass das Unternehmen als Reaktion auf die Covid-Pandemie viel für seine Mitarbeitenden und bedürftige Gemeinden tue. Ausdrücklich wird auf die Verbesserung der Ernährungssicherheit verwiesen.
«Wir haben an Lebensmittel-Banken, Lieferanten und Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz und den Roten Halbmond gespendet, um Menschen in Not zu unterstützen», heisst es dort, und weiter: «Wo nötig, bieten wir kostenlose Mahlzeiten und Transportmöglichkeiten für Mitarbeitende an, um das Risiko zu verringern, dass sie krank werden.»
Dennoch ist das Unternehmen in Brasilien bereit, die Essenszuschüsse für die eigenen Mitarbeitenden zu kürzen. Auf Anfrage von SWI swissinfo.ch teilte Nestlé in Brasilien über seine Pressestelle mit, dass das Unternehmen «den Inhalt laufender Verhandlungen» mit seinen Gewerkschaften und Mitarbeitenden nicht kommentiere.
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