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Nicht nur eine Frage des Alters: Warum Covid-19 manche Menschen härter trifft als andere

Antikörper reagieren auf eine Infektion mit dem Coronavirus
Antikörper reagieren auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2. Die Antikörper binden sich an spezifische Antigene, z. B. virale Proteine, und markieren sie für die Zerstörung durch andere Immunzellen. In der Abbildung ist das Virus intakt (links) und wird zerstört (rechts). Dieser Prozess wird durch die Immunantwort des Körpers bestimmt. Keystone / Kateryna Kon

Die Erkenntnisse über die Risikofaktoren des Coronavirus nehmen zu. Zwei Studien, an denen Wissenschafter:innen aus der Schweiz beteiligt waren, legen nahe, dass auch Gene und Blutzuckerspiegel für den Krankheitsverlauf eine entscheidende Rolle spielen.

Die grosse Bandbreite des Schweregrads von Covid-19 hat Forschende und Kliniker:innen verblüfft. Sie erstreckt sich von jungen, gesunden Menschen, die auf Intensivstationen liegen, über ältere Menschen, die kaum einen Schnupfen entwickeln, bis hin zu Krebspatient:innen, die gar keine Symptome entwickeln.

Zu Beginn der Pandemie schienen Menschen über 65 Jahre und solche mit Vorerkrankungen wie Krebs, Diabetes, Herz- oder Lungenleiden eher an Covid-19 zu erkranken. Doch seither ist das Durchschnittsalter derjenigen, die ins Spital eingeliefert werden, gesunken.

Mehrere Studien haben versucht, diese Verschiebung in der Demografie der Erkrankten zu erklären. Einige Expert:innen vermuten, es könnte sich um eine Folge der niedrigeren Impfraten bei jungen Erwachsenen handeln, während andere meinen, die infektiösere Delta-Variante könnte dafür verantwortlich sein.

Alter und bestimmte Vorerkrankungen sind aber nicht die einzigen Faktoren, die den Verlauf einer Covid-19-Infektion beeinflussen. Neue Forschungsarbeiten, an denen Ärzt:innen und Forschende aus der Schweiz beteiligt sind, weisen auf zwei weitere wichtige Risikofaktoren hin: Gene und Blutzuckerwerte. Diese Erkenntnisse könnten den Einsatz von Techniken des maschinellen Lernens öffnen, um zu erkennen und vorauszusagen, wer am meisten gefährdet ist und vorrangig behandelt werden sollte.

Warum Gene eine Rolle spielen

Als die erste Welle von Corona-Fällen die Schweiz erfasste, begann der Arzt Dimitri Patriki im Kantonsspital Baden, Gruppen von Familien zu betreuen, die mit schweren Covid-19-Infektionen eingeliefert wurden, obwohl sie nicht an bestimmten Vorerkrankungen litten. Er fragte sich, ob allenfalls Gene im Spiel sein könnten.

Patriki wandte sich in der Folge mit der Bitte um Rat an Bettina HeideckerExterner Link, eine Expertin für Autoimmunerkrankungen an der Berliner Charité. «Ich kenne Bettina Heidecker seit unserer gemeinsamen Zeit am Universitätsspital in Zürich. Ich wusste, dass ihr Wissen über Gene wertvoll sein könnte», sagt Patriki.

Auch Heidecker hatte eine Vermutung. Sie stellte die Hypothese auf, dass eine Gruppe von Genen – das so genannte Humane Leukozyten-Antigen-System (HLA), das für die Regulierung des Immunsystems zuständig ist – erklären könnte, warum gewisse Patient:innen im Spital nur relativ leichte Symptome entwickelten, während andere künstlich beatmet werden mussten.

Es ist bekannt, dass HLA mit anderen Krankheiten wie Grippe oder rheumatoider Arthritis in Verbindung gebracht wird. Auch bei der Entwicklung von Myokarditis, einer gefährlichen Entzündung des Herzmuskels, kann die Gen-Gruppe eine Rolle spielen. Heidecker rief daher ein internationales Projekt ins Leben, um allfällige Zusammenhänge zwischen HLA und schweren Verläufen von Covid-19 zu untersuchen. Das Projekt stützte sich auf Daten aus Spitälern in aller Welt.

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435 Erkrankte unterschiedlichen Alters und Geschlechts, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden, wurden im Laufe von sechs Monaten untersucht. Dazu gehörten auch 21 Patient:innen, die Patriki behandelt hatte. «Das Kantonsspital Baden spielte bei unserer Forschung in der Schweiz eine zentrale Rolle», sagt Heidecker über die internationale Zusammenarbeit.

Die Forscher:innen entnahmen Blutproben und analysierten die genetischen Merkmale der Teilnehmenden, um Hinweise auf den Einfluss von HLA zu finden. Sie unterschieden nach dem Schweregrad der Erkrankung und stuften Patient:innen als schwer krank ein, wenn sie künstlich beatmet werden mussten.

Die Studie, die kürzlich in einer Zeitschrift der renommierten «Lancet»-Gruppe veröffentlicht wurdeExterner Link bestätigte ihre Hypothese: Covid-19-Patient:innen, die einen bestimmten Subtyp des menschlichen Leukozyten-Antigens, genannt HLA-C * 04:01, aufwiesen, mussten doppelt so häufig künstlich beatmet werden wie Erkrankte ohne dieses Gen.

Die Forschungsgruppe geht davon aus, dass dieser Subtyp die Immunreaktion entweder verlangsamt, so dass das Virus Zeit hat, sich schnell zu vermehren, oder sie übertreibt. Eine überschiessende Immunreaktion auf das Virus kann zu einer tödlichen Entzündung führen.

KI wirft Schlaglicht auf Blutzucker

Wissenschafter:innen konnten zudem vor kurzem ein weiteres wichtiges Teil des Covid-19-Puzzles hinzufügen: Die Rolle der Glukose, oder des Blutzuckers, im menschlichen KörperExterner Link.

Die Erkenntnisse stammen von der AI-Projektgruppe Blue Brain an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), die ihr eigenes Gehirnsimulationstool für die Analyse von Studien über Covid-19 umfunktionierte.

Die Gruppe trainierte das Tool, um Schlüsselwörter in einer Datenbank mit mehr als 240’000 akademischen Artikeln zu finden, in denen das Sars-Cov-2-Virus, die von ihm verursachte Krankheit und andere Coronaviren erwähnt werden.

«Das Tool extrahierte und klassifizierte mehr als 400’000 relevante Schlüsselwörter, eine Aufgabe, die ein Mensch nicht hätte erfüllen können», sagte Henry Markram, Gründer und Direktor des Blue-Brain-Projekts, gegenüber SWI swissinfo.ch.

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Die Gruppe stellte fest, dass der Begriff «Glukose» in den Artikeln 6326 Mal erwähnt wurde. Zum Vergleich: Der Begriff SARS-CoV-2 wurde 49’386 Mal erwähnt. Unter den biochemischen Verbindungen wies der Begriff Glukose der Analyse zufolge die stärkste Assoziation mit allen Infektionsstadien auf.

In einem weiteren Schritt analysierten die Forschenden die wichtigsten Artikel, in denen Glukose als Risikofaktor hervorgehoben wurde. Und rekonstruierten den Verlauf der Covid-19-Krankheit – von der Infektion in der Lunge bis zur Entwicklung von Komplikationen und Organversagen – in einer grafischen Visualisierung. Auf diese Weise konnten sie die dichten Informationen zusammenfassen und die potenzielle Rolle von Glukose bei der Krankheit untersuchen.

«Mit Hilfe dieses Prozesses der Wissensverarbeitung haben wir herausgefunden, dass ein hoher Blutzuckerspiegel praktisch jedes Stadium der SARS-CoV-2-Infektion fördert», sagt Emmanuelle Logette, Molekularbiologin beim Projekt Blue Brain.

Hohe Blutzuckerwerte beeinträchtigten die anfängliche Immunreaktion und förderten die Invasion und Vermehrung des Virus, sagt sie. Zudem begünstigten sie akute Entzündungen, was zu Multiorgan-Versagen führen könne. Und auch die Aktivität der Blutgefässe werde gestört, was Thrombosen nach sich ziehen könne.

«Es ist also die Kombination dieser vielfältigen Auswirkungen eines hohen Blutzuckerspiegels, welche die Entwicklung schwerer Formen von Covid-19 erklärt», unterstreicht die Forscherin.

Hoher Blutzucker und Diabetes

Diabetes ist ein bekannter Risikofaktor für Covid-19. Aber es ist nur eine der Krankheiten, die mit erhöhten Glukosewerten zusammenhängen. Die Analyse der Projektgruppe Blue Brain befasst sich nicht speziell mit Diabetes, sondern konzentriert sich darauf, wie der Körper Glukose verarbeitet.

Eine Schwäche bei der Verarbeitung von Glukose, auch ohne Diabetes, könnte nach Ansicht der Autor:innen die primäre Abwehrfunktion der Lunge gefährden und das Immunsystem schwächen.

Kann maschinelles Lernen helfen, schwere Covid-19-Fälle voherzusagen?

Nach Ansicht von Heidecker und Patriki ist der Einsatz von solchen Modellen des maschinellen Lernens ein entscheidender Schritt nach vorn in der Covid-19-Forschung. Nicht nur, um die Krankheit besser zu verstehen, sondern auch, um Gruppen mit erhöhtem Risiko genauer zu identifizieren und schwerwiegende Krankheitsverläufe vorauszusehen.

«Für uns Ärzte ist es sehr schwierig, während einer Pandemie zu arbeiten. Manchmal werden so viele Leute eingeliefert, dass es kompliziert ist, zu erkennen, wer ein Risiko für eine schwere Covid-19-Erkrankung hat und wer nicht, vor allem unter Zeitdruck. Es ist eine grosse Hilfe, wenn uns mehr Elemente zur Beurteilung zur Verfügung stehen», sagt Patriki.

Ein vollständiges Bild der Risikofaktoren könnte dem Gesundheitspersonal helfen, das Verhalten von Covid-19 bei Erkrankten genauer vorherzusagen. «Ich hoffe, dass wir irgendwann an einem Punkt ankommen, an dem wir auf genetische Marker testen können, die Aufschluss darüber geben, ob jemand ein sehr hohes Risiko hat, Covid-19 zu bekommen oder schwer krank zu werden», sagt Patriki weiter.

In Zusammenarbeit mit der AWK Group experimentiert er bereits mit einem Algorithmus für Prognosen zum Verlauf von Covid-19 und anderen Krankheiten bei seinen Patienten und Patientinnen. Patriki hofft, eines Tages über ein System zu verfügen, das genaue Diagnosen in Echtzeit erstellen werden kann. Aber jedes funktionierende System wird zuerst an tatsächlichen Patientendaten trainiert werden müssen.

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