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SBB als Vorbild für die Deutsche Bahn

Die Schweizer Eisenbahn ist in der Regel pünktlich und zuverlässig, zumindest pünktlicher und zuverlässiger als die Deutsche Bahn. Keystone

Die Schweizer lieben ihre Bahn, um die sie alle Welt beneidet. Deutsche wiederum lieben es, über ihre Bahn zu schimpfen. Sie klagen über verspätete Züge, verpasste Anschlüsse und fehlende Informationen. Nicht nur in diesen Punkten kann die Deutsche Bahn AG noch einiges von der SBB lernen.

Pünktlicher als die Schweizer ist niemand. «Die SBBExterner Link ist ohne Frage zuverlässiger als die Deutsche Bahn AGExterner Link«, sagt Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro SchieneExterner Link, einem Bündnis von 23 deutschen Non-Profit-Organisationen, gegenüber swissinfo.

Jeder vierte Zug im deutschen Fernverkehr kommt mehr als fünf Minuten zu spät. Was bedeutet, dass Reisende häufig ihren Anschluss im Umsteigebahnhof nicht erreichen. Ein Viertel der Bahnkunden ist unzufrieden mit dem Service des Konzerns und steigt entsprechend häufig auf das Auto um. Jeder Deutsche fuhr im Jahr 2015 im Durchschnitt 979 Kilometer mit der Bahn, jeder Schweizer hingegen 2277.

Was läuft schief? «Der Fehler liegt im System», sagt Verkehrsexperte Flege. «Deutschland steckt seit Jahren zu wenig Geld in seine Eisenbahninfrastruktur.» Unpünktliche Züge seien das Symptom einer fehlgeleiteten Verkehrspolitik, die den Verkehr auf der Schiene sträflich vernachlässige und zu sehr auf die Strasse setze.

Deutsche Bahn AG

1994 wurden die westdeutsche Bundesbahn und die ostdeutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG zusammengeführt. Sie befindet sich zu 100 Prozent in Staatsbesitz. Der Konzern beschäftigt über 300’000 Mitarbeiter, davon rund 195’000 in Deutschland, und hat über 1000 Tochterunternehmen in aller Welt. Kern des Unternehmens ist das Eisenbahngeschäft in Deutschland mit über 5,5 Millionen Kunden täglich im Schienenpersonenverkehr und rund 596 Tausend Tonnen beförderter Güter pro Tag. Rund 1,8 Millionen Kunden sind täglich mit Bahn-Bussen in Deutschland unterwegs. Insgesamt fahren auf dem 33’300 Kilometer langen Streckennetz täglich rund 40’000 Züge. Im Personenverkehr befördert der DB-Konzern europaweit (inkl. Deutschland) in seinen Zügen und Bussen nahezu 12 Millionen Personen pro Tag.

(Quelle: u.a. Deutsche Bahn AG)

Schienenausbau hat Priorität

In der Schweiz steht der Schienenausbau hingegen weit oben auf der Agenda. Während die Eidgenossenschaft im vergangenen Jahr 383 Euro pro Bürger in ihr Schienennetz investierte, waren es in Deutschland nur gerade 56 Euro. Nur 7,4 Prozent aller Personenfahrten entfallen in Deutschland auf den Zug, in der Schweiz sind es 19,3 Prozent, rechnet Wolf-Dieter Deuschle vom Schweizerischen Bundesamt für Verkehr vor. Für ihn ist der Grund klar: «Je mehr in die öffentlichen Verkehrsmittel investiert wird, desto mehr Leute nutzen sie.»

Die Schweiz hat, was Deutschland noch fehlt: Ein öffentliches Verkehrssystem aus einem Guss, das sämtliche Verkehrsmittel integriert und im Takt aufeinander abstimmt. Vom IC in den Regionalzug, dann in den Bus oder auf die Fähre umsteigen, mit passenden Anschlüssen und einem einzigen Billet. Deutsche Touristen bekommen grosse Augen, wenn sie solch reibungsloses Reisen im Urlaub erleben. Die SBB fährt jede größere Stadt im Halbstundentakt an, manche sogar im Viertelstundentakt, fast jedes Dorf auch im entlegensten Alpental ist an das Netz angeschlossen. Dass so viel Mobilität Geld kostet, wird in Kauf genommen und ist Konsens.

Weniger Schienenkilometer – aber stärker befahren

In Deutschland rühmt sich die Bahn derweil damit, Städte mit 100’000 Einwohnern bald wieder im Zwei-Stunden Takt anzufahren. Sie kämpft weiterhin mit einer zu hohen Verspätungsquote. Das deutsche DB-Management verweist in diesem Zusammenhang gerne auf ihr grösseres und damit anfälligeres Streckennetz: 5676 Bahnhöfe und Haltestellen sind in Deutschland zu bedienen, in der Schweiz nur 794. Dirk Flege, der Geschäftsführer von Allianz-pro-Schiene, wirbt dennoch für einen Takt nach Schweizer Vorbild auch für Deutschland: «Das Streckennetz der Schweiz ist dichter und stärker befahren als das deutsche. Und dennoch sind die Züge pünktlich.»

SBB

Der 1. Januar 1902 gilt als «offizielles» Geburtsdatum der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Das Unternehmen zählt insgesamt 33’000 Vollzeitbeschäftigte. In der Schweiz gibt es 794 Bahnhöfe. 2015 verzeichnete die SBB 441,8 Mio. Personenfahrten und transportierte 51,1 Nettotonnen.

(Quelle: SBB)

Einiges hat sich die Deutsche Bahn bereits bei ihren südlichen Nachbarn abgeschaut: Die Bahncard 50 nach dem Modell des Schweizer Halbtax-Abos ist seit vielen Jahren ein Erfolg. Doch anders als in der Schweiz ist sie nicht in allen öffentlichen Verkehrsmitteln gültig. Welcher Verbund sie akzeptiert, erfährt man häufig erst vor Ort. Fahrkarten lassen sich nicht immer bis zum Zielort buchen, weil das letzte Teilstück von einem nicht angeschlossenen regionalen Anbieter bedient wird.

Die Bürger entscheiden über die Bahn

Noch mangelt es in Deutschland an dem systemischen Denken, das Flege an der eidgenössischen Verkehrspolitik so schätzt. Unterschiedliche Verkehrsmittel wie Bahn und Auto werden dort nicht isoliert betrachtet und finanziert, sondern als Teil eines integrierten Verkehrskonzeptes begriffen. So fliessen in Deutschland die Einnahmen aus der LKW-Maut nur in den Strassenbau. In der Schweiz hingegen tragen auch die Autofahrer durch einen beschränkten steuerlichen Abzug ihrer Fahrtkosten zur Finanzierung eines verbesserten Schienennetzes bei. So entschieden es die Schweizer selbst durch die Annahme der sogenannten FABI-Vorlage im Februar 2014. Die Bürger selbst entscheiden über den künftigen Stellenwert der Bahn, über Schienenausbau und Taktverkürzungen.

Versprechen statt Ergebnisse

Die Ergebnisse sind bindende Vorgaben statt politischer Versprechungen. «In der deutschen Politik ist das Motto ‹Mehr Verkehr auf die Schiene› nur ein Lippenbekenntnis. Getan wird dafür kaum etwas», sagt Flege. Darunter leiden auch die europäischen Nachbarn: Während der Gotthard-Basistunnel als Kernstück der Nord-Süd-Schienenverbindung durch Europa im Juni 2016 feierlich eröffnet wurde, soll der viergleisige Ausbau der deutschen Zubringerstrecke Karlsruhe-Basel erst im Jahr 2035 vollendet sein.

Dabei gibt es auch in Deutschland engagierte Verkehrspolitiker, die der Schiene mehr Bedeutung einräumen, Netze auszubauen und Takte verbessern möchten. Doch sie haben einen mächtigen Gegner: «Die Autolobby schiesst hinter den Kulissen alles kaputt, was sich an bahnfreundlicher Politik abzeichnet», klagt der Geschäftsführer von Allianz pro Schiene. Mit Erfolg. Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung sah vor, bis 2015 ein Viertel des Güterverkehrs auf die Schiene zu verlagern. 2016 sind 17,3 Prozent erreicht – Ziel verfehlt und ein neues nicht in Sicht. In der Schweiz laufen mittlerweile 40 Prozent des Güterverkehrs über die Schiene, alpenquerend sogar 66 Prozent. So, wie es die Schweizer Bürger beschlossen haben.

Der Kunde hat keinen Einfluss

In Deutschland wechseln verkehrspolitische Ziele hingegen mit den politischen Koalitionen. Auf Unternehmensebene kann die Deutsche Bahn ebenfalls mit einem Managerwechsel eine neue Strategie verkünden, ohne dass ihre viele Millionen Kunden Einfluss darauf hätten oder deren Wünsche berücksichtigt würden.

Kein Wunder, dass sich Deutsche weit weniger mit ihrer Bahn identifizieren als Schweizer. Ihre Bahn liegt den Eidgenossen so sehr am Herzen, dass man ihr auch mal Verspätungen verzeiht – zumal diese sehr selten vorkommen. Deutsche diskutieren hingegen mit Leidenschaft die Defizite der Deutschen Bahn und tauschen Anekdoten über Verspätungen und schlechten Service aus.

Gut – an guten Tagen

Viele führen die Probleme der Deutschen Bahn auf deren Privatisierung und den angestrebten Börsengang zurück. Dirk Flege sieht das nicht so. Durch die Öffnung für den Wettbewerb habe sich viel Gutes entwickelt: eine bessere Servicequalität, neue Anbieter, unternehmerisches und innovatives Denken. Das im März vorgestellte neue Fernverkehrskonzept verspricht angelehnt an das Schweizer Vorbild bessere Verbindungen sowie eine Servicesteigerung für die Kunden. Er hofft, dass dieses auch umgesetzt wird.

Schon heute braucht sich die Deutsche Bahn im gesamten europäischen Vergleich nicht zu verstecken. An guten Tagen gleiten moderne ICE-Züge mit bis zu 300 Stundenkilometern durch Deutschland, der Kaffee wird am Platz serviert und der Zielbahnhof pünktlich erreicht. Perfekt wäre es, wenn jeder Tag ein guter Tag wäre.

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