«Partizipative Demokratie ist eine Frage der Mentalität»
Im Unterschied zu anderen Ländern des "Arabischen Frühlings" hat Tunesien den Übergang in die Zeit nach Ben Ali geschafft. Für den Juristen Yadh Ben Achour, der bei der Vorbereitung der politischen Reformen eine Schlüsselrolle spielte, erklären die Geschichte des Landes sowie gewisse Erfahrungen mit Konsens und "partizipativer" Demokratie diesen noch fragilen Erfolg.
Trotz sicherheitspolitischer Bedrohungen setzt Tunesien seinen demokratischen Weg fort, zu dem die Ausarbeitung einer neuen Verfassung sowie Parlaments- und Präsidentenwahlen gehörten. Ein Interview mit dem Rechtsprofessor Yadh Ben Achour, dem Vorsitzenden der «Hohen Instanz zur Umsetzung der Ziele der Revolution, der politischen Reformen und des demokratischen Übergangs», der jüngst in Genf weilte.
Yadh Ben Achour
Der am 1. Juni 1945 in Marsa (Vorort im Norden von Tunis) geborene Jurist ist Spezialist für öffentliches Recht und islamische politische Theorien.
Yadh Ben Achour war Doyen der Fakultät für Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaften in Tunis (1993-1999), Mitglied des Instituts für Völkerrecht und Mitglied des Expertenkomitees, das im Rahmen des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) 2007 einen Bericht über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt verfasste.
Am 21. Januar wurde er Vorsitzender der «Nationalen Kommission für politische Reformen», die nach zwei Monaten umgebildet wurde in die «Hohe Instanz für die Umsetzung der Ziele der Revolution, der politischen Reformen und des demokratischen Übergangs». Das Gremium war zuständig für den Grossteil der politischen und juristischen Vorarbeiten, die im Oktober 2011 in den Wahlen für die verfassungsgebende Versammlung mündeten.
Der Jurist hat ein Dutzend Grundsatzwerke und Dutzende von akademischen Artikeln veröffentlicht. Er interessiert sich in erster Linie für das Verhältnis zwischen Islam und politischer Praxis, ein Thema, dem er zwei Werke gewidmet hat: «Aux fondements de l’orthodoxie sunnite» (PUF, Paris, 2008) sowie «La deuxième Fatiha, islam et la pensée des droits de l’homme» (PUF, Paris, 2011).
swissinfo.ch: 2011 leiteten Sie diese Instanz, zu deren Aufgaben die politischen Reformen gehörten. Welches sind die wichtigsten Lehren, die Sie aus dieser einzigartigen Erfahrung ziehen konnten?
Yadh Ben Achour: Wir befanden uns in einer revolutionären Periode. In einer solchen Phase kann das Recht die Wirklichkeit zwar nie völlig regieren, aber man darf auch in einer revolutionären Periode nie auf das Recht verzichten!
Das Resultat dieser beiden Feststellungen war, dass wir mit der Hohen Instanz eine Art «Parlament» hatten. Das Gremium setzte sich aus Vertretern der politischen Parteien zusammen, die man dafür loben konnte, dass sie sich gegen die Diktatur Ben Alis gestemmt hatten, unabhängig von ihren Ideologien. Sie alle hatten sich aufgelehnt und sich ab einem bestimmten Moment, nach dem Hungerstreik von 2005, (an dem Oppositionelle aller Lager teilgenommen hatten, N.d.R.) miteinander verbündet, über eine gemeinsame Plattform, die sich später, bei der Fertigstellung der neuen Verfassung, wieder fand. Die Hohe Instanz fusste nicht auf der Legitimität von Wahlen, sie war aber aufgrund eines Konsens zusammengestellt worden.
Die grosse Lehre, die ich aus dieser Erfahrung ziehe, ist, dass uns der vorrevolutionäre Konsens sehr gedient hat. Es ist diese Erfahrung mit partizipativer Demokratie, die im Nachhinein erklärt, wie es uns gelungen ist, diese Zeit des Übergangs erfolgreich zu bewältigen und eine neue Verfassung auszuarbeiten. Und zwar eine demokratische Verfassung, obschon eine islamistische Partei an der Macht war.
swissinfo.ch:Was ist das Geheimnis Tunesiens, dieser Ausnahmeerscheinung inmitten der turbulenten, wenig oder gar nicht demokratischen, arabischen Welt?
Y.B.A: Das Geheimnis für das, was als die «Ausnahme Tunesien» bezeichnet wird, geht auf verschiedene Elemente zurück. Zunächst ist da die Erfahrung mit Bourguiba, der in unserem Land (trotz der harten Hand seiner Regierung) tief greifende Reformen durchgeführt hatte, vor allem im Bereich der Familienrechte, der Befreiung der Frauen und einer Modernisierung in den Köpfen. Diese Reformen waren im neuen tunesischen Bürgersinn bereits tief verankert, vor allem im Bereich der Gesetzgebung, aber auch in der Mentalität der Menschen.
Und dieses Erbe haben wir wieder gefunden! So haben die Menschen in Tunesien nach der Revolution – auf praktisch leidenschaftliche Art und Weise – die Errungenschaften der Frauen verteidigt. Und trotz ihrer tief gläubigen Natur hielten sie an der Ablehnung einer Vermischung von Politik und Religion fest, die auf die Epoche Bourguiba zurückgeht. Anders gesagt, als der radikale Flügel der grössten Partei (Ennahdha, N.d.R.) seine grossen Projekte zur Islamisierung von Staat und Gesellschaft vorantreiben wollte, reagierte die Mehrheit der Gesellschaft sofort.
Die Chance Tunesiens ist, dass das Land über eine lange Erfahrung mit Reformen verfügt, die auf das 19. Jahrhundert zurückgehen. Bourguiba fügt sich in einen viel längeren Zyklus ein, der mit dem Grundlagenpakt von 1857 begann, gefolgt von der ersten tunesischen Verfassung von 1861. Wir haben also eine Tradition von Reformen, Verfassungsrecht und Staatlichkeit, die der Sockel war, auf dem die Aktionen der tunesischen Gesellschaft beruhten, als der radikale Flügel zumindest versuchen wollte, den Staat und die Gesellschaft zu islamisieren. Und wenn wir nun eine demokratische Verfassung haben, ist es, weil Tunesien ziemlich viele historische Ressourcen hatte und aus seinem Erbe schöpfen konnte, um diesen Versuchen die Stirn bieten zu können.
swissinfo.ch: In einem jüngst veröffentlichten Text schreiben Sie, die Verfassung vom 27. Januar 2014 sei «vor allem das Resultat einer aufkeimenden Bürgerschaft» in Tunesien. Denken Sie, dass diese Bürgersinn-Dynamik sich weiter entwickeln und zunehmen wird?
Y.B.A.: Dieses Experimentieren mit Demokratie erfolgte spontan, weil die Gesellschaft provoziert wurde durch diese Versuche der Islamisierung, und darauf folgte dann eine grosse demokratische Debatte.
Deshalb habe ich in dem von Ihnen erwähnten Artikel gesagt, es gehe um das Produkt einer sich herausbildenden Bürgerschaft. Bürgerschaft, das bedeutet die Freiheit des Rechtssubjekts, die Freiheit jeder einzelnen Person, die ihre Präsenz gegenüber einem Staat bekräftigen können muss. Es geht um ein Gleichgewicht zwischen individuellen und kollektiven Überzeugungen einerseits und den Freiheiten des Individuums und der Autorität des Staates andererseits, ein Gleichgewicht, das nur schwer zu finden ist – ausser in demokratischen Regierungsformen. Deshalb sagte ich, es sei eine «aufkeimende Bürgerschaft». Wir haben zwar die Freiheit des Individuums in Bezug auf den Staat und gegenüber der Gesellschaft erworben, die Balance aber noch nicht ganz gefunden.
swissinfo.ch: Im Verlauf der vergangenen Jahre wurden verschiedene Ideen diskutiert, um die Teilnahme der Bürger und Bürgerinnen am Entscheidungsprozess auszuweiten (ein Kapitel der Verfassung ist der lokalen Regierungsebene gewidmet, Möglichkeit für den Präsidenten, ein Referendum anzusetzen, etc.). Wird sich dieser partizipative Ansatz auf lokaler und regionaler Ebene weiter entwickeln?
Y.B.A: Bei den von Ihnen erwähnten Aspekten geht es um rechtliche Verfahren, die partizipative Demokratie hingegen ist kein juristisches Phänomen, sondern eine Frage der Mentalität, der Erfahrungen. Das Recht schafft diese politische Erscheinung nicht, aber es organisiert sie in der Folge. Im Grunde wird sie durch den vorherrschenden Geist eines Volks geschaffen.
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Wenn die Mentalität der Leute in ihrem aktuellen Zustand verharrt, kann man die besten Verfassungen und die besten Gesetze der Welt ausarbeiten, man wird es nicht schaffen. Im Gegenteil, das Problem könnte noch verschärft werden! Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Lokale Demokratie und lokale Macht sind ausgezeichnet, aber nur in dem Mass, in dem es eine Einheit in der Gesellschaft gibt, die sich der Aufspaltung, der Zwietracht entgegen stellt, es braucht also mehr Einheit als Aufspaltung, und mehr Wohlstand als Armut. Nun aber sahen wir im Verlauf der letzten Jahre wie das Phänomen des Stammesdenkens wieder aufkam, von dem man gedacht hatte, es sei verschwunden. Öffnet man den Weg für lokale Regierungen zu sehr, ohne die notwendige Vorsicht, kann dies solches Auseinanderdividieren fördern, was noch gefährlicher werden kann.
swissinfo.ch: Mitte Mai ist Tunis Gastgeber der 5. Ausgabe des internationalen Forums zur modernen direkten Demokratie. Was kann ein solches Forum zur aktuellen Entwicklung im Lande beitragen?
Y.B.A: Ich denke, das Land kann von dieser Art Veranstaltung – und dem damit verbundenen Medienrummel – nur profitieren. Denn die Reform von Mentalitäten erfolgt tatsächlich über die Kommunikation.
Was zum Beispiel Fragen wie Menschenrechte, Demokratie, politische Teilnahme, Wahlen und anderes angeht: Je mehr über solche Themen berichtet wird, umso mehr verwurzeln sich diese in den Köpfen der Menschen, womit das Bewusstsein für diese Fragen steigt. Es ist noch ein sehr langer Weg, aber Tunesien kann von einer solchen Konferenz und der damit verbundenen Medienberichterstattung auf nationaler und internationaler Ebene nur profitieren.
Sieben Monate Diskussionen und politische Erschütterungen
14. Januar 2011: Nach einem Monat mit Demonstrationen und Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften verlässt Präsident Ben Ali mit seiner Frau und einigen Mitgliedern der Familie das Land und reist nach Saudi-Arabien ins Exil.
15. Januar 2011: Yadh Ben Achour akzeptiert den Vorschlag des Premierministers, den Vorsitz einer Kommission für politische Reformen zu übernehmen, deren Auftrag war, die Verfassung von 2002 zu überarbeiten und eine Reform der wichtigen Gesetze an die Hand nehmen, die das öffentliche Leben und die Politik des Landes regeln.
3. März 2011: Nach grossem Druck von der Strasse, den Sicherheitskräften und dem Gewerkschaftsbund kündigt der Präsident der ersten Übergangsphase die Aussetzung der Verfassung und die Schaffung der «Hohen Instanz zur Umsetzung der Ziele der Revolution, der politischen Reformen und des demokratischen Übergangs» an. Er präzisiert, das Gremium werde den juristischen Rahmen und vor allem den Rahmen für die Wahl einer neuen verfassungsgebenden Versammlung ausarbeiten.
Die «Hohe Instanz» mit ihren 151 Mitgliedern unter dem Vorsitz von Yadh Ben Achour setzte sich zusammen aus Juristen und aus Vertretern der politischen Parteien, der Regionen, der Jungen, der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Berufswelt, darunter die zentrale Gewerkschaft UGTT, die tunesische Menschenrechts-Kommission, der tunesische Anwaltsverband sowie unabhängige Persönlichkeiten.
13. Oktober 2011: Nach sieben Monaten Diskussionen und politischen Erschütterungen beendet das Gremium die politische und juristische Arbeit der ersten Übergangsperiode. Sie legt die Regeln für die bevorstehende Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung (ANC) fest, wählt die Mitglieder der Obersten Unabhängigen Instanz für die Wahlen (Isie) und legt deren Organisation fest.
23. Oktober 2011: Organisation der ersten freien und demokratischen Wahlen in Tunesien zur Wahl der 217 Mitglieder der neuen verfassungsgebenden Versammlung.
26. Januar 2014: Die verfassungsgebende Versammlung verabschiedet die neue Verfassung mit überwältigender Mehrheit (200 von 217 Stimmen) ihrer Mitglieder.
26. Oktober 2014: Wahlen für eine neue Volksversammlung (ARP). Siegerin der Wahlen wird die im Juni 2012 gegründete Partei «Nidaa Tounes» (Appell für Tunesien, die sich aus Mitgliedern der ehemaligen Regierungspartei, Gewerkschaftern, linken und unabhängigen Persönlichkeiten zusammensetzt) mit 86 Sitzen, auf Rang zwei kommt die islamistische Partei Ennahdha (Wiedergeburt) mit 69 Sitzen.
18. Dezember 2014: Béji Caid Essebsi, ehemaliger Premierminister (von März bis Dezember 2011) und ehemaliger Minister in der Regierung Bourguiba, wird mit 55,68% der Stimmen zum Präsidenten der tunesischen Republik gewählt.
5. Februar 2015: Die Nationalversammlung spricht der neuen Regierung unter Habib Essid das Vertrauen aus. Der Regierung gehören Vertreter von «Nidaa Tounes» und aus drei weiteren Parteien mit liberalen und konservativen Tendenzen an, sowie einige Unabhängige.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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