Mit einem aussergewöhnlichen Projekt tritt die bekannte Fotografin Katja Snozzi in Erscheinung: Sie hat 100 Hundertjährige oder noch ältere Menschen in der Schweiz fotografiert. Das Ergebnis liegt in einem faszinierenden Fotoband vor. Das Museo Vela im Tessin zeigt zudem eine Auswahl dieser Porträts in Grossformat und konfrontiert sie mit der plastischen Porträtkunst Vincenzo Velas.
Faszinierend und zugleich verstörend: Diese Fotos von Gesichtern, häufig auch Händen, von Menschen, die 100 und mehr Jahre gelebt haben. Viele zerknitterte, von Falten durchfurchte Gesichter. Andere mit überraschend glatter Haut. Nachdenkliche, manchmal lachende oder auch schon halb entrückte Menschen.
Was diese wohl in einem Jahrhundert alles erlebt haben? Der Betrachter kann es nur erahnen, kann versuchen, aus Gestik, Mimik und Haltung dieser Personen etwas herauszulesen. Die Bildlegende gibt lediglich Namen und Wohnort der jeweils Porträtierten an. Drei Viertel sind Frauen, was nicht erstaunt, denn die Lebenserwartung von Frauen ist wesentlich höher als jene von Männern.
Die Fotografin Katja Snozzi hat ihr Projekt «Jahrhundertmenschen» im Jahr 2014 begonnen. Die Idee kam ihr, nachdem sie Menschen allen Alters in ihrer Tessiner Wohngemeinde Terre di Pedemonte einen Porträtband gewidmet hatte. «Da merkte ich: Je älter die Personen, desto mehr gefielen mir die Gesichter», sagt Snozzi im Gespräch mit swissinfo.ch.
Laut Statistik lebten im Jahr 2014 genau 1504 Ü-100-Personen in der Schweiz. Um an sie zu gelangen, kontaktierte die Fotografin Alters- und Pflegeheime in allen Landesteilen. Sie stellte ihr Projekt vor, wollte wissen, ob Hundertjährige Interesse und Lust hätten, fotografiert zu werden. Dabei half ihr auch Nationalrat Ignazio Cassis, Präsident der Organisation Curaviva.ch (Verband Heime und Institutionen).
Natürlich und ohne Blitz
«Es waren dann diese Personen selbst oder ihre Angehörigen, die sich bei mir gemeldet haben», erzählt Snozzi. In einigen Fällen schrieb sie auch Menschen persönlich an, wenn sie beispielsweise in einer Zeitung von deren 100. Geburtstag gelesen hatte.
Dann folgte der Fototermin. Nur drei bis maximal zehn Fotos machte Snozzi von jeder Person. Bei Tageslicht beziehungsweise vorhandenem Licht – kein Blitz. Dabei drückte Snozzi häufig schon auf den Auslöser, bevor sich das Gegenüber setzte oder das Gespräch begann. Denn die Fotos sollten natürlich und nicht inszeniert daher kommen. «Sonst hätte ich Passbilder gehabt –was ich nicht wollte», sagt die Fotografin.
Das Resultat ist beeindruckend. «Bewundernd werden wir diese Gesichter wie von der Zeit geformte Landschaften betrachten», schreibt die ehemalige Schweizer Bundesrätin Ruth Dreifuss in ihrem Vorwort zum Bildband «Jahrhundertmenschen», das die Schwarz-Weiss-Aufnahmen enthält.
Eine Auswahl dieser Bilder, knapp 30, sind im Bundesmuseum Museo Vela in Ligornetto (Tessin) in Grossformat zu sehen. Für Museumsdirektoren Gianna A. Mina beweisen diese Porträtbilder, «dass auch Hundertjährige ihre Lebensfreude und Selbständigkeit bewahrt sowie Interesse am Zeitgeschehen haben».
Die Ausstellung: «Rita Hayworths Kindermädchen«, Fotografische Porträts von Katja Snozzi, Museo Vincenzo Vela, 6853 Ligornetto (Schweiz) – bis 5. März 2017.
Das sich im Museum die Bilder von Katja Snozzi mit den Skulpturen von Vincenzo Vela (1820-1891) treffen, ist natürlich gewollt. «Für beide, die Fotografin und den Bildhauer, steht der Mensch, dessen Schicksal in Antlitz und Haltung stets zum Vorschein kommt, im Zentrum der Ergründung – er widerspiegelt sich in den Augen der Betrachter», so Mina.
Ästhetischer Kontrapunkt
Die Museumsdirektorin erklärt schliesslich auch den rätselhaften Titel der Ausstellung: «Rita Hayworths Kindermädchen». Dieser Titel verweist auf die einzigartigen, manchmal bizarren oder auch fast unvorstellbaren Lebenserfahrungen einiger der Hundertjährigen, etwa Elisa aus dem Onsernonetal, die in ihren jüngeren Jahren tatsächlich das Kindermädchen von Rebecca, der Tochter von Rita Hayworth und Orson Welles, war.
Ob man es will oder nicht: Die Ausstellung hat auch eine politische Seite. Denn noch nie lebten in der Schweiz so viele Menschen, die über hundert Jahre alt sind. Über die alternde Gesellschaft wird viel gesprochen, vor allem als Last – als finanzielle Last für die Staatskasse, als pflegerische Last für die Familie oder als medizinische Last für das Gesundheitssystem.
Die Ausstellung zeigt die menschliche Seite des Alters und Alterns – ein Kontrapunkt zum Modebegriff Anti-Aging. Sie stellt die Mainstream-Ästhetik in Frage, die auf junge und makellose Modelle setzt. Katja Snozzi zeigt auf, dass auch die Facetten des Alters ihre Faszination haben: Schönheit, Freude, Weisheit, Bitterkeit, Schmerz und Verzweiflung – kurzum das gelebte Leben.
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