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Pro Helvetia: Für Schweizer Kunst ein Sprungbrett in die Welt

Nicole L'Huillier, transdisziplinäre Künstlerin aus Santiago de Chile war Simetría Resident 2019. Hier beim Test ihres Telemetron. Sands Fish

Die Kulturstiftung Pro Helvetia fördert im Auftrag des Bundes Schweizer Kunst- und Kulturschaffen weltweit. Wie funktioniert das? SWI swissinfo.ch nimmt Sie mit in die Aussenstellen - nach Kairo, Paris, Santiago de Chile oder Moskau.

Eine Gruppe von Schweizer Autorinnen und Autoren begibt sich 2018 auf eine Lesereise durch Russland. Im selben Jahr rufen die Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf und das internationale Radioteleskop-Observatorium (ALMA) im Norden Chiles Residenzprogramme ins Leben.

Das Projekt heisst «Simetria» und ermöglicht Kunstschaffenden aus der Schweiz und Chile künstlerische Forschung in beiden Institutionen. Und 2019 wird der international erfolgreiche Berner Theatermacher Milo Rau Gast der 6. Mostra Internacional de Teatro in São Paulo.

ALMA Observatorium in Chile, Residenz-Ort für das Programm Simetría. zvg

Damit sind drei Projekte von vielen weltweit genannt, die unterstützt wurden von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Der Name mag für Aussenstehende gar stark nach eidgenössischem Traditionalistentum klingen ‒ ganz falsch ist das nicht: Pro Helvetia wurde 1939 gegründetExterner Link als eine Art «geistige Landesverteidigung» angesichts der faschistischen Bedrohung und des Zweiten Weltkriegs.

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Erste Aussenstelle in Kairo

Seither fördert Pro Helvetia im Auftrag des Bundes «Schweizer Kunst und Kultur mit Blick auf Vielfalt und hohe Qualität». Dies umfasste schon 1949, als die Organisation von einer Arbeitsgruppe zur autonomen, öffentlich-rechtlichen Stiftung wurde, nebst der Fördertätigkeit im Inland auch eine Verbreitung der Schweizer Kultur im Ausland.

Über die Jahre hinweg wurde so kontinuierlich eine institutionelle Präsenz rund um den Globus aufgebaut: 1985 eröffnete man mit dem heute renommierten Centre culturel suisse in ParisExterner Link ein eigenes Ausstellungs- und Bühnenhaus; mit anderen, etwa dem 1986 gegründeten Swiss Institute in New YorkExterner Link, bestehen Mandatsverträge oder Leistungsvereinbarungen.

1988 wurde in Kairo ein erstes externes Verbindungsbüro installiert, also eine Zweigstelle des Zürcher Hauptsitzes, die mit einem ortsansässigen, lokal vernetzten Team Schweizer Kulturprojekte in der jeweiligen Region betreut. Heute bestehen weitere Büros in Johannesburg, Neu-Delhi, Schanghai und Moskau. Und Anfang dieses Jahres, mitten in der Pandemie also, nahm eine «dezentrale» Aussenstelle mit sechs Mitarbeitenden in vier Metropolen Südamerikas den Betrieb auf.

Residencies, Netzwerk und finanzielle Förderung

Die Arbeit, die Pro Helvetia mit ihren Netzwerkaktivitäten und den Aussenstellen leistet, beruht letztendlich aber auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage «Pro Helvetia ist keine Promotionsagentur, es braucht immer ein Interesse von der anderen Seite, also eine Institution, eine Organisation, welche die Schweizer Kunstschaffenden einladen will», sagt Pro Helvetia-Direktor Philippe Bischof. Nach der Eröffnung einer Aussenstelle würde die Zahl von entsprechenden Gesuchen bei Pro Helvetia oft ansteigen. Das zeige an, dass der initiierte Austausch greift.

Einen anderen Nachweis für die Nachfrage nach Schweizer Kunstschaffen im Ausland liefern die Zahlen: Die Gesamtausgaben von 42,4 Millionen Schweizer Franken für das Jahr 2019 gingen zu 41,2% an Aktivitäten im Inland, 58,8% oder 21,8 Millionen Franken betrafen Projekte im Ausland.

Wie oft bei solchen Auslandaktivitäten nachhaltige Beziehungen entstehen, ist freilich schwer zu bemessen und hängt auch von den spezifischen Interessen der involvierten Personen und Institutionen ab. Nicht immer ist ein fortdauernder Austausch das Ziel. Doch das Theater- und Tanzhaus Arsenic in LausanneExterner Link und das experimentelle Kulturzentrum Nave in Santiago de ChileExterner Link beispielsweise pflegen mit Hilfe von Pro Helvetia seit Längerem gemeinsame ResidenzprogrammeExterner Link, gelegentliche Koproduktionen und einen Wissensaustausch.

Künstlerin Ursula Biemann (Mitte) präsentiert 2019 in Mocoa, Kolumbien, ihr Projekt mit indigenen Gemeinschaften. zvg

Die Künstlerin Ursula Biemann, die mit ihren vielbeachteten Videoarbeiten auf ökologische, ökonomische und soziale Zusammenhänge verweist und im kolumbianischen Amazonas an der Kreation einer «indigenen Universität»Externer Link beteiligt ist, betont vor allem den Wert der finanziellen Unterstützung durch Pro Helvetia, die ihr nebst neuen Produktionen die weltweite Präsentationen von verschiedenen Filmarbeiten ermöglicht. Die Kontakte der Organisation sind für sie sekundär, «weil ich seit 30 Jahren Feldforschung betreibe und weiss, wie ich mir ein passendes Network aufbaue».

Ein Vorzeigebeispiel in Bezug auf nachhaltigen Austausch ist die Künstlerin Sarina Scheidegger, die im Nachgang einer Residency beim Kunstraum «FLORA ars + natura»Externer Link im kolumbischen Bogotà 2018 verschiedene Kollaborationen mit Kunstschaffenden aus Südamerika realisiert hat. Die Performance-Reihe «Nosotrxs, Cuerpos de Agua»Externer Link entstand mit der Argentinierin Jimena Croceri und wird nach Aufführungen in London und Zürich im Herbst 2021 auch im Ausstellungsraum Klingental Basel sowie im Museo de la Inmigración in Buenos Aires gezeigt.

Sarina Scheidegger und Jimena Croceri, Nosotrxs, Cuerpos De Agua, 2019. Hier eine Installation zur Performance, Raven Row Gallery, London. Katarzyna Perlak

«Wichtige Aspekte in der Zusammenarbeit mit Pro Helvetia», sagt Scheidegger, «sind die weiterführende Unterstützung von Projekten und natürlich auch die Kontakte, die Netzwerke und das Zusammentreffen von verschiedenen Künstler*innen, um in einen Dialog zu treten».

Prekäre Bedingungen und künstlerische Freiheit

Natürlich fruchten nicht alle dieser «Koppelungsversuche». Natalia Ruchkina, interimistische Leiterin in MoskauExterner Link, benennt auch Schwierigkeiten: «Einige Bereiche, in denen Kooperationen zunächst voller Energie begonnen haben, fransen leider aus wegen immanenter Probleme in der Szene. Die Fotografie zum Beispiel ist in Russland institutionell sehr schwach, oder die Institutionen haben eher traditionelle Ansätze und es ist schwierig, Punkte von gemeinsamen Interessen zu finden.» Erfolgsgeschichten verzeichnete man seit Eröffnung dieser Aussenstelle 2017 hingegen im Bereich von Tanz, Theater und zeitgenössischer Musik.

«Extended Cahiers», Ausstellung der Cahier d’Artistes von Pro Helvetia im Kunstzentrum GROUND Moskau, 2017. zvg

Zusätzlichen Herausforderungen stellen sich aktuell verständlicherweise durch Corona. Doch María (Angie) Vial, die Leiterin der neuen südamerikanischen AussenstelleExterner Link mit Sitz in Santiago de Chile, erkennt auch Positives: «Covid gab uns die Gelegenheit zu lernen, wie Projektarbeit unter unplanbaren Bedingungen geht», sagt sie und verweist darauf, dass die durchschnittliche zweijährige Vorlaufszeit vieler Schweizer Projekte oft problematisch sei für die kulturelle Szene Südamerikas, die ohne langfristige Planung und Finanzierung operieren müsse. «Im Moment operieren wir im Überlebensmodus, aber dies prägte schon immer unsere Geisteshaltung in Südamerika.»

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Deutlich führen die Aussagen von Ruchkina und Vial die manchmal prekären Bedingungen vor Augen, innerhalb derer Pro Helvetias Aussennetz agiert. Wirtschaftliche, aber auch politische Instabilität, Verstösse gegen Menschenrechte und Zensur sind in verschiedenen Regionen ein Thema. Ethische Fragen stellen sich und besonders jene nach der Meinungsfreiheit, in welcher sich das Schweizer Kunstschaffen doch weitgehend aufgehoben weiss.

«Wir versuchen ganz klar, die künstlerische Freiheit in den Projekten selbst zu verteidigen», sagt Direktor Philippe Bischof und erläutert die Vorteile, die Pro Helvetia als nicht politisches Organ geniesst: «Wir machen keine Diplomatie und keine Aussenpolitik, wir sind als Kulturstiftung irgendwo dazwischen, und ich glaube sehr stark an den Reichtum dieser manchmal sehr kleinen Räume, Dialogräume, von denen man weiss, dass sie nicht politisch kontrolliert sind.»

Internationale Wettbewerbsfähigkeit  

Natürlich bedeuten solch kulturelle Auslandaktivitäten auch Imagepflege. Doch gerade mit der globalen Tätigkeit leistet Pro Helvetia auch Karriereförderung für Schweizer Kunstschaffende. Dies hält sie auf dem internationalen Parkett wettbewerbsfähig, wo ihre Produktionen vergleichsweise hochpreisig sind. 

Homme posant avec les bras croisés.
Директор Швейцарского Совета по культуре Про Гельвеция Филипп Бишоф. Keystone

Aber wer gibt eigentlich die Richtung vor? Sie leitet sich ab aus der sogenannten «Kulturbotschaft», die seit 2012 vierjährlich die Förderpolitik des Bundes und damit die strategischen Ziele von Pro Helvetia definiert. Die jüngst eröffnete Aussenstelle in Südamerika ist eine Reaktion auf die «zweite Kulturbotschaft»Externer Link für die Jahre 2016‒2020. Die Erschliessung neuer Märkte wie etwa in Brasilien, die sich auf der westlich geprägten Weltkarte zeitgenössischer Kunst erst unlängst profilierten, ist hier als explizites Ziel formuliert.

Allerdings betont Philippe Bischof, seit 2017 Direktor von Pro Helvetia, dass das Marktpotenzial nicht der einzige Faktor für die Eröffnung eines Verbindungsbüros sei. Es gehe auch darum, den Kulturaustausch für das Schweizer Kunstschaffen zu ermöglichen, und in manchen Fällen, etwa Kairo, könne eine Aussenstelle auch Tor zu einer ganzen Region sein. «Für uns ist es sehr interessant zu beobachten, wie wir in der weiten Welt mit einer doch bescheidenen Zahl von sechs Verbindungsbüros präsent sein können», so Bischof.

Die Zukunft soll mutlilateral werden

Befragt nach den zukünftigen Plänen für das globale Netzwerk, nennt Bischof die Vision, die Unterscheidung zwischen In- und Ausland im Förderdenken zu überwinden und die Netzwerkidee zu stärken. Ziel sei es, «Pro Helvetia von einer Schweizer Stiftung mit einem internationalen Mandat in Richtung einer Stiftung zu etablieren, die ihr Mandat in einem multilateralen Sinne versteht». Es ist ein weltoffener Ansatz, dem aktuell physische (Corona) und ideologische Limitierungen entgegenstehen. Doch gerade die Kunst hat im Verlauf der Geschichte in solchen Situationen stets seismographischen Scharfsinn und Agilität bewiesen.



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