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Der Hölle von Vel d’Hiv knapp entkommen

Am 16. und 17 Juli 1942 verhafteten 9000 französische Polizisten und Offiziere in Paris und seinen Vororten 12'884 Juden, darunter 4051 Kinder. Sie wurden alle in die Lager Drancy (auf dem Foto), Pithiviers oder Beaune-la-Rolande gebracht, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden. AFP

Frankreich gedenkt heute, am 16. Juli, dem 80. Jahrestag der Rafle du Vel d'Hiv – der grössten Massenverhaftung von Jüdinnen und Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich verübt wurde. Edmond Richemond entkam ihr nur knapp bevor er sich in die Schweiz aufmachte. Ein Zeitzeugenbericht.

Der 93-jährige Edmond Richemond reist heute nach Sarcelles in der Nähe von Paris, um an den Gedenkfeiern der Rafle du Vel d’Hiv (Deutsch: Razzia des Wintervelodroms) teilzunehmen.

Trotz der Hitzewelle, trotz der Emotionen. Auf den Tag genau vor 80 Jahren nahm die französische Polizei frühmorgens seine Mutter mit, die er nie wieder sehen sollte. Und veränderte damit sein ganzes Leben.

Ab Juni 1942 forderten Adolf Eichmann, der logistische Leiter der «Endlösung», und sein Delegierter in Frankreich, Theodor Dannecker, die Deportation von 30’000 bis 40’000 Jüdinnen und Juden im Alter von 16 bis 45 Jahren, wovon etwa 20’000 Personen in der Region Paris lebten.

Die in Vichy zurückgezogenen französischen Behörden, die mit den Besatzern kollaborierten und deren Antisemitismus mehr oder weniger teilten, stellten sich auf die gleiche Linie.

Unter der Bedingung, so rekapituliert der Historiker Laurent Joly in seiner jüngsten Zusammenfassung «La Rafle du Vel d’Hiv» (Verlag Grasset), dass diese jüdischen Personen «Ausländer:innen (oder ausländischer Herkunft) sind und dass die Ordnungskräfte von Vichy völlig autonom agieren».

Kurz gesagt: Die französische Polizei sollte sich alleine um alles kümmern. Edmonds Vater Rachmil Richemond, der 1897 als geborener Reichman in Polen zur Welt kam, wurde von Polizeiinspektoren versichert, dass Frauen und Kinder nicht gefährdet seien.

Rachmil und sein ältester Sohn Jack verliessen 1941 das Haus in der Rue Braille im 12. Arrondissement von Paris und tauchten unter. Sie liessen Edmond und seine Mutter Rachel allein in der Wohnung zurück.

Die Hölle von Vel d’Hiv

An diesem 16. Juli 1942 klingelte die Polizei. Sie forderte Madame Richemond auf, Lebensmittel und Kleidung für drei Tage vorzubereiten. Der 13-jährige Edmond tat so, als würde er packen, flüchtete aber in Tat und Wahrheit zu den Nachbarn, den Richards. Rachel wurde zum Wintervelodrom gebracht, einer überdachten Radrennbahn in der Nähe des Eiffelturms.

Der 93-jährige Edmond Richemond entging während des Zweiten Weltkriegs nur knapp der Massenverhaftung von Jüdinnen und Juden in Frankreich. Mathieu van Berchem / swissinfo.ch

12’884 Menschen wurden in zwei Tagen festgenommen, von denen mehr als 8000 in den «Vel d’Hiv» geschickt wurden (die anderen in das Lager Drancy). Die unsäglichen Bedingungen, die damals im Stadion herrschten, beschrieb eine junge Sozialarbeiterin ihrem Vater wie folgt:

«Es ist etwas Schreckliches, Dämonisches (…), das dir die Kehle zuschnürt und dich am Schreien hindert. (…) Wenn du eintrittst, stockt dir zuerst der Atem wegen der verpesteten Luft. Du findest dich in dieser grossen schwarzen Radrennbahn aus Menschen wieder, die dicht an dicht gedrängt sind. Die wenigen Toiletten sind verstopft. Niemand ist da, um sie wieder in Ordnung zu bringen. Jeder ist gezwungen, seine Ausscheidungen entlang der Wände zu machen…»

Vichy hielt nicht einmal sein Versprechen, den Besatzern nur «ausländische oder staatenlose Juden» zu liefern. Wie Laurent Joly feststellt, hatten etwa 3000 Kinder aus Vel d’Hiv «die französische Staatsbürgerschaft, sie waren echte kleine Pariser mit den Namen Albert, Janine, Henri, Marie…»

Etwa zwei Drittel der gesuchten Personen entkamen den Razzien. Eine der vielen Erklärungen, die Laurent Joly anführt, ist die Nachsicht der Beamten, die wenig Eifer zeigten und manchmal sogar die jüdischen Personen warnten.

Das grosse Pech: Im 12. Arrondissement, in dem die Richemonds wohnten, war Kommissar Boris verantwortlich, ein wutentbrannter Vichy-Regime-Anhänger. Er konnte sich für seine rekordverdächtige Erfolgsquote von 61% der verhafteten Jüdinnen und Juden auf die Schulter klopfen.

Die verrückte Überquerung der Grenze

Edmond blieb einen Monat bei den Richards, deren Mut ihnen viel später den Titel «Gerechte unter den Völkern» einbrachte. Im September wurde der Teenager schliesslich von jüdischen Untergrundorganisationen, insbesondere der «Colonie scolaire», betreut. Diese kümmerten sich darum, jüdische Jugendliche in die südfranzösische «freie Zone» und dann in die Schweiz zu schleusen.

«Von Annemasse aus marschierte ich mit vierzehn Kindern in Richtung Genf. Wir sangen ‹Maréchal nous voilà› [Anm. d. Red: Im Vichy-Regime ein französisches Lied zu Ehren des Marschalls Pétain], um ja keinen Verdacht zu erwecken», erinnert sich Richemond.

«Wir folgten der Strasse entlang der Grenze mit ihrer doppelten Reihe von 2,5 Meter hohen Stacheldrahtzäunen. Ich hatte nur eine Anweisung im Kopf: ‹Überquere den Stacheldraht auf der Höhe der grossen Eiche›.»

Als die Kinder den Zaun überquerten, sahen sie einen deutschen Soldaten auf sich zukommen. «Wir sassen in der Falle. Aber ‹Nein›, rief der Jüngste von uns, ’schaut genau hin, da ist ein weisses Kreuz auf seiner Uniform!›. Es war ein deutschschweizer Grenzwächter. Auf dem Posten in Veyrier hörten sich die Männer ein Fussballspiel an. Welch ein Kontrast und welche Erleichterung!»

Bus beim Vel d Hiv
Sygma Via Getty Images / Antoine Gyori – Corbis

Edmond wurde in das Lager «Les Cropettes» in der Stadt Genf gebracht. 2526 Personen, darunter 1622 jüdische Flüchtlinge, durchliefen während des Krieges diese von den Behörden beschlagnahmte Schule. Von diesen Personen wurden 80 zurückgewiesen.

Im August 1942 sieht die Polizeiabteilung in einem vertraulichen Rundschreiben vor, dass Deserteure, Kriegsgefangene und andere Militärangehörige sowie politische Flüchtlinge in der Schweiz aufgenommen werden sollen. Aber, so präzisiert sie, «diejenigen, die nur aufgrund ihrer Rasse geflohen sind, etwa Juden, dürfen nicht als politische Flüchtlinge betrachtet werden».

Die märchenhafte Schweiz

Als Kind blieb Edmond in der Schweiz und lebte in mehreren Lagern, in denen «sehr harte» Bedingungen herrschten. Im Lager Varembé «habe ich dem Oberrabbiner von Bern geschrieben, damit er uns ein Essenspaket schickt. Das Ergebnis war, dass wir fünf Bibeln und fünf Schweizer Franken erhielten…».

Edmond hatte Angst, in ein Arbeitslager gesteckt zu werden, als er in das Hotel des Dents du Midi in Champéry gebracht wurde. Er schlug dem Unteroffizier, einem Monsieur Turini, deshalb vor, die Zimmer zu putzen. Erfreut von diesem Angebot, schlug ihm letzterer vor, mit ihm in sein Haus in Crans-sur Sierre zu kommen und im Hotel Golf in der Hotellerie zu arbeiten. Nichts weniger als das.

«Es war märchenhaft, aussergewöhnlich. Ich hatte so etwas noch nie in meinem Leben gesehen. Die Unbeschwertheit, der Frieden», erzählt er im Film «Opa», den sein Enkel Simon Maller über ihn gedreht hat. «Ich habe Könige getroffen, den Fürsten von Monaco», so Richemond.

Und den grossen Schweizer Diplomaten und Historiker Carl Jacob Burckhardt. «Seine Töchter haben mir das Skifahren beigebracht. Überraschend rief mich Burckhardt in sein Zimmer und befragte mich über meinen Werdegang.»

Der Vizepräsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuz (IKRK) versprach ihm, sich bei den deutschen Behörden nach seinen Eltern zu erkundigen. Das Versprechen wurde gehalten.

Richtung Auschwitz

Anfang September, als Edmond gerade in die Schweiz und in die Freiheit flüchtete, wurden seine Eltern und sein Bruder aus dem Lager Drancy deportiert. Sie wurden ins besetzte Polen gebracht. Rachmil und Jack wurden im Arbeitslager Blechhammer festgehalten, von wo sie bei Kriegsende zurückkehren konnten. Rachel wurde nach Auschwitz transportiert, wo sie nach ihrer Ankunft am 9. September vergast wurde.

Von den 12’884 Personen, die am 16. und 17. Juli 1942 im Grossraum Paris festgenommen wurden, waren 12’400 deportiert worden. Nur wenige Hundert überlebten die Konzentrationslager der Nazis.

Viel später, anlässlich seiner Hochzeit, kehrte Edmond Richemond ins Hotel Golf zurück. Es war eine Genugtuung für ihn, von einem antisemitischen Angestellten bedient zu werden, der ihm 1944 gesagt hatte: «Du nimmst die Arbeit eines Schweizers!»

Übertragung aus dem Französischen: Melanie Eichenberger

Melanie Eichenberger

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