Richard Werly: «Die Westschweiz kann von einem starken Frankreich nur profitieren»
In der Schweiz verfügen nur noch wenige Medien über ein eigenes Korrespondentennetz im Ausland. Wer sind diese Menschen, die sich entscheiden, im Ausland zu leben, um ihren Landsleuten daheim über die Welt zu berichten? Und wie ist ihr Verhältnis zur Schweiz als Medienschaffende? SWI swissinfo.ch porträtiert fünf von ihnen. Vierte Station: Frankreich.
Jede Region der Welt hat ihre Besonderheiten. Für einen Romand hat der Korrespondentenposten in Frankreich aber fraglos eine besondere Dimension. Richard Werly wird noch einige Monate für die Tageszeitung Le Temps aus der Hauptstadt Paris berichten. Treffen mit einem eloquenten Beobachter des Zeitgeschehens. Das vierte Porträt in unserer Serie.
Junge Jahre
Richard Werly, Sohn einer Französin und eines Schweizers, wuchs im französischen Departement Nièvre auf (in der Region Franche-Comté im Burgund). Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Paris. Nach Abschluss seiner Studien fand er seine erste Stelle als Journalist bei der französischen Zeitung La Croix.
Die Position eines Auslandskorrespondenten sah er bereits damals als interessanteste Stelle in einer Redaktion. «Ich wusste schon immer, dass ich als Journalist über internationale Angelegenheiten berichten wollte», sagt er.
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Mit dieser Überzeugung verliess er 1990 seinen Posten und ging nach Thailand, wo er begann, als freier Mitarbeiter für SWI swissinfo.ch (damals Schweizer Radio International) und das Journal de Genève zu arbeiten. Obwohl er in Frankreich aufgewachsen war und lebte, hatte er stets auch Kontakt zu seiner Familie in Genf. Es war für ihn daher ganz natürlich, für Schweizer Medien zu arbeiten.
Richard Werly hat auch heute noch eine besondere Vorliebe für das Land des Lächelns. «Ich habe dort geheiratet und habe einen Sohn (der jetzt dort lebt). Über den persönlichen Aspekt hinaus war diese Zeit auch meine erste Erfahrung als Korrespondent, das hat mich geprägt.»
Zeit für neue Horizonte
Ende der 1990er-Jahre stiess er zur Zeitung Le Temps, die damals eine Newcomerin in der Westschweizer Medienlandschaft war. Zu der Zeit begann er auch, über bewaffnete Konflikte zu berichten, vor allem in Kambodscha und Birma.
Dank der Zusammenarbeit zwischen Le Temps und der französischen Zeitung Libération, für die er ebenfalls schrieb, ging Richard Werly im Jahr 2000 als Korrespondent nach Japan. Er blieb aber nur drei Jahre dort, weil sich das Land nicht zu dem wirtschaftlichen und geopolitischen Pol entwickelte, wie viele erwartet hatten. Trotz dieses eher kurzen Gastspiels «war die Begegnung mit Japan sehr faszinierend», sagt er.
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Krieg, schon wieder
Zurück am Hauptsitz in Genf verbrachte der Journalist jedoch nicht viel Zeit dort. Seine Erfahrung mit der Berichterstattung über bewaffnete Konflikte und seine Lust am Reisen führten ihn dazu, 2003 über den Irakkrieg zu berichten und später über den Krieg zwischen Libanon und Israel. Und 2011 sogar über den Fall von Tripolis in Libyen, obschon er damals eigentlich Korrespondent in Brüssel war.
Richard Werly definierte sich «jedoch nie als Kriegsberichterstatter». Printjournalisten exponierten sich viel weniger als Fotografen oder Kameraleute, die für ihre beruflichen Bedürfnisse an die Front gehen müssten, sagt er. Als Printjournalist könne man «in der zweiten Reihe bleiben, denn dort kann man mit den Menschen reden und schliesslich Geschichten erzählen».
Richard Werly schätzt sich glücklich, dass er über Kriege «mit regulären Armeen» berichten konnte. Er ist der Meinung, dass solche Kriege von Journalisten und Journalistinnen einen scharfen Sinn für Beobachtung und ein ausgeprägtes Gespür für Berichterstattung erfordern, vor allem aber müsse man Kriege entmystifizieren: «Krieg ist in der Tat schrecklich banal. 10 Prozent Kampf und 90 Prozent tristes Leben und tägliche Not.»
Er ist sich auch bewusst, dass «die Arbeit in einer Konfliktzone Adrenalin erzeugt, wie es auch Sportlerinnen und Sportler erleben».
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Neue Herausforderung
Angetrieben vom Bedürfnis nach neuen Herausforderungen, bewarb er sich 2006 um die Korrespondentenstelle von Le Temps in Brüssel.
«Brüssel hat die Besonderheit, dass man auf dem Papier zwar Korrespondent ist, in Wirklichkeit aber für den Europa-Teil der Zeitung verantwortlich ist, wenn auch aus der Ferne», sagt er. Und dann spricht er über die Geschichte der institutionellen Maschinerie und darüber, «wie kompliziert» die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union sind.
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Zurück zu den Wurzeln
Als 2014 die Stelle des Korrespondenten in Frankreich frei wurde, lag sein Name auf der Hand. In der Zwischenzeit hatte die Zeitung die Korrespondentenstelle in Brüssel aufgegeben, so dass Richard Werly in Zusammenarbeit mit einer freischaffenden Journalistin auch das Ressort Europa-Angelegenheiten übernahm.
Frankreich hat für ihn einen besonderen Charakter, weil er auch diese familiäre, persönliche Bindung zu dem Land hat. Daher drängt sich eine gewisse Zurückhaltung auf, «um ausreichend Distanz zu wahren».
Seiner Ansicht nach besteht die Aufgabe eines Print-Korrespondenten darin, seinen Leserinnen und Lesern das Land, in dem er sich befindet, zu schildern und näher zu bringen. «Aber im Falle von Frankreich richtet man sich an ein französischsprachiges Schweizer Publikum, welches das Land gut kennt, man hat also schon eine Grundlage.» Es geht für ihn daher darum, «den Schweizern zu helfen, Frankreich zu verstehen».
Und er ist der Ansicht, dass «es für die Westschweiz nur von Vorteil sein kann, an der Seite eines starken Frankreichs zu leben». «Denn wenn Frankreich strahlt, profitiert die französischsprachige Schweiz kulturell, wirtschaftlich – es führt zu nichts, Frankreich zu verunglimpfen», sagt Richard Werly.
Er ist sich der Tatsache bewusst, dass die Westschweizer es lieben, Frankreich, den grossen Nachbarn, zu verunglimpfen – und besteht auf dem Verb lieben. «Es besteht eine emotionale Beziehung zwischen den beiden Regionen, und dies zu leugnen, wäre nicht fair. Man muss jedoch eine kritische Dimension bewahren.»
Nach nun fast sechs Jahren als Korrespondent in Paris vergleicht er das Bild der Schweiz in Frankreich mit dem eines Koffers mit doppeltem Boden. Das Hauptfach besteht aus «Geschichte, gemeinsamen Beziehungen und Kultur, ein Ort, an dem sich gut leben lässt».
Darunter, im zweiten Fach, findet man Steuerhinterziehung und die Frage der Neutralität, die «manchmal auf fragwürdige Weise benutzt wird». Aus diesem Gesichtspunkt heraus betrachtet, erscheint die Schweiz viel egoistischer und profitabler.
Wenn er aber mit «Franzosen auf der Strasse» spricht, bemerkt Richard Werly, «einen natürlichen Respekt», wenn er seine Nationalität erwähnt. «Und das bedeutet, dass unser Land ein sehr positives Image geniesst.»
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Wahrnehmung der Schweiz in der Welt
Da der Journalist einen grossen Teil des Planeten bereist hat, verfügt er über einen globalen Blick auf das Bild der Schweiz in der Welt. Und je nach Ort ist dieses Image unterschiedlich. Denn «je nachdem, ob man in Japan oder in Frankreich ist, sieht man nicht die gleichen Facetten».
In Asien ist das Bild der Schweiz tatsächlich ausgezeichnet. «Sie ist das Land all der Klischees.» Aber je näher man der Schweiz kommt, desto kontrastreicher die Wahrnehmung. In Brüssel zum Beispiel «mag unser Land zwar als stabil und gut geführt wahrgenommen werden, aber auch als ein pedantischer Partner, zu anspruchsvoll, gar arrogant manchmal».
Für Richard Werly liegt der unbestreitbare Vorteil eines Schweizer Korrespondenten in der Tatsache, dass «man keine Kontroverse hervorruft, im Gegensatz zu einem amerikanischen Korrespondenten zum Beispiel». Im Laufe seiner Karriere, die ihn im Frühjahr 2021 nach Washington bringen wird, hat er «nie eine negative Meinung über die Schweiz als Nation oder über ihr Volk gehört».
Richard Werly sur Twitter, c’est ici: @LTwerlyExterner Link
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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