Ricola, Ragusa, Rivella: Ode an Familienbetriebe
Sie sind krisenresistent und das Rückgrat des Landes: Die Schweizer Familienunternehmen wie Knie, Rivella oder Louis Widmer-Kosmetik, stehen im Rampenlicht. Ein Buch ehrt sie.
«In der gegenwärtigen Wirtschaftswelt, die immer den schnellen, individuellen Profit sucht, sind die Familienunternehmen ein erfreulicher Gegenpol.» So umschreibt die Schweizer Bundespräsidentin und Wirtschaftsministerin Doris Leuthard diese Strukturen, die Arbeitsplätze und innovative Ideen schaffen – und im Augenblick sehr «en vogue» sind.
Die Bundesrätin signiert das Vorwort eines Bilingue-Buches (Französisch-Deutsch), «Schweizer Standards – Aus bester Familie», das jüngst in Zürich erschienen ist. Es ist eine Ode an den schweizerischen Unternehmergeist, 420 Seiten stark, in Form eines alphabetischen Jahrbuches.
Das Thema ist «in». In den 1990er-Jahren wurde es zu einem universitären Forschungsgebiet. Seit dem 1. Januar 2006 gibt es in der Schweiz eine eigene Universitätsfakultät, das Zentrum für Familienunternehmen der Universität St. Gallen.
«Sinn für Soziales und Moral»
Die Krise hat diese Art der Wirtschaftsstruktur stark gemacht. «Die Wiedergeburt des Themas ‹Familienunternehmen› erstaunt nicht», sagt der Soziologe und Medienexperte der Universität Zürich, Kurt Imhof, gegenüber swissinfo.ch.
Er sieht einen möglichen Grund für diese Entwicklung: «Die Familienunternehmen haben noch soziale und moralische Verantwortung für ihren Betrieb; Verantwortung, die für einen gut funktionierenden Kapitalismus notwendig ist. Für die börsenkotierten Unternehmen sind die Aktien nur noch Investitionsobjekte», so Imhof.
Das Buch will keine wissenschaftliche Analyse sein, sondern «eine Einladung auf eine Reise durch die Schweizer Wirtschaftsgeschichte». Die Familienunternehmen werden vorgestellt, mit ihrer Geschichte, mit ihren Zahlen.
Gewisse Namen sind sehr bekannt, wie Knie, Louis Widmer, Bernina, Ricola oder Rivella. Andere sind bekannt, ohne dass man genau weiss, welche Produkte sich dahinter verstecken, wie zum Beispiel Hilcona (Lebensmittel) odere Brunschwig (Bon Génie-Ladenkette).
Andere Namen werden den meisten Leserinnen und Lesern wahrscheinlich nichts sagen, wie Habasit (Treibriemen) oder Bertschi, spezialisiert auf Schüttguttransport von Chemikalien. Das Buch rezensiert insgesamt 96 Namen von Unternehmen, die zwischen 1748 und 1996 gegründet wurden.
Rund 10% Absagen
Wie haben die Herausgeber – Schweizer Standards mit einem Expertenkomitee – ihre «Kandidaten» rekrutiert für die «besten Familien», wie der englische Titel heisst? «Wir wollten einen Mix aus Gattungen, Produkten, traditionell und modern», sagt Pierre-Alain Cardinaux, Verantwortlicher für die Region Westschweiz von Ernst & Young sowie Ko-Autor des Buches.
«Wir hatten etwa 10% Unternehmen, die an dem Projekt nicht teilnehmen wollten. In der Schweiz sind die Familien traditionell diskret. Viele haben verlangt, dass ihre Angestellten auch ins Rampenlicht kommen sollten.» Cardinaux glaubt nicht, dass die Angst, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, ein Grund für die Absagen war.
«Die Mischung aus Tradition und Innovation ist eine der auffallendsten Charakteristiken dieser Unternehmen», sagt der Ko-Autor gegenüber swissinfo.ch. «Einige von ihnen werden immer noch von den Gründern geführt, andere von deren Erben, meistens aus der zweiten Generation, manchmal, aber selten, bis zur fünften Generation.»
Unter den Westschweizer Betrieben zum Beispiel werden Bobst, Kudelski und Vetropack im Kanton Waadt aufgeführt, Pictet Bankiers, Lombard et Odier, Chopard für Genf oder Camille Bloch (Schokolade, darunter Ragusa) für den Jura.
Finanzierung besser abgesichert
«Die Familienunternehmen behaupten sich in der Krise besser», sagt Pierre-Alain Cardinaux. «Ihre Finanzierungen sind besser abgesichert, und Investitionen tätigen sie oft in Produktionswerkzeuge.» Für ihn ist die Nähe zu den Universitäten ein sehr schweizerischer Vorzug, genauso jener der regionalen Verankerung.
Ein Problem darf aber nicht verschwiegen werden: Nachfolgeregelungen gestalten sich oft als schwierig und langwierig. «Das ist normal, weil es dabei viele Emotionen gibt», fügt der Ko-Autor hinzu. «Unternehmensgründer haben oft Mühe abzutreten und machen sich manchmal auch falsche Vorstellungen über den Wert ihres Unternehmens.»
Thomas Zellweger, Direktor des Schweizerischen Instituts für Klein- und Mittelunternehmen an der Universität St. Gallen, listet einige Herausforderungen für die betroffenen Familien auf: «Weniger Erben, kleinere Familien, Individualisierung des Arbeitslebens, Bereitschaft, die Heimat zu verlassen.»
Die Voraussagen von Ökonomen aus den 1930er-Jahren, welche Familienunternehmen wegen der zunehmenden Streuung der Eigentumsverhältnisse keine Zukunft zutrauten, haben sich offenbar nicht bewahrheitet. «Aber andere Übernahmeformen – Käufe durch das Management oder Angestellte oder Übernahmen durch externe Unternehmen – werden immer wichtiger, damit Ricola, Ragusa und Rivella weiterhin bestehen bleiben», sagt Thomas Zellweger.
Ariane Gigon, swissinfo.ch, Zürich
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
88% aller Schweizer Unternehmen können laut den Autoren des Buches «Schweizer Standards – Aus bester Familie» als Familienbetriebe bezeichnet werden.
Eine Mehrheit von ihnen sind kleine und mittlere Unternehmen (KMU), 50% sind Grossunternehmen.
37% der an der Börse kotierten Unternehmen sind Familienbetriebe.
Die Buchautoren schätzen den Anteil der Familienunternehmen am Bruttoinlandprodukt (BIP) auf etwa 60%. Diese Zahl entspricht auch dem Anteil an Arbeitskräften, die sie beschäftigen.
Laut den Autoren des Buches «Schweizer Standards – Aus bester Familie» ist erwiesen, dass zwei Drittel der Unternehmensnachfolgen in der 2. Generation scheitern.
In der 3. Generation verbleiben noch 10 bis 15% Familienunternehmen, in der 4. Generation nur noch 3 bis 5%.
Heute sind in der Schweiz mehr als die Hälfte der Cheffinnen und Chefs von Familienunternehmen zwischen 51 und 60 Jahre alt.
In dem Buch gibt es auch Rezepte zum Erfolg in Sachen Nachfolge: sich früh vorbereiten. «Es sind viele Emotionen im Spiel, es ist nicht leicht», sagt Ko-Autor Pierre-Alain Cardinaux.
Laut einer Studie der Universität St. Gallen und von Credit Suisse finden immer mehr Familienunternehmen Käufer im Ausland.
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