Bonfol oder das Ende eines chemischen Alptraums
Die Sondermülldeponie Bonfol im Kanton Jura gehörte zu den verseuchtesten Standorten der Schweiz. Über Jahre diente diese Deponie unter freiem Himmel als Lager für hochgiftigen Chemiemüll. Gut ein halbes Jahrhundert nach ihrer Inbetriebnahme ist sie nun saniert. Die unglaubliche Geschichte von Bonfol ist auch die Geschichte eines Kampfes einer kleinen jurassischen Gemeinde gegen die Basler Chemie-Multis.
Roger Bregnard (78) sitzt in seinem Wohnzimmer und erzählt. Er war einst Lastwagenfahrer und fuhr zwischen Basel und seinem Heimatort Bonfol (Jura) hin und her. Er brachte Müll der Basler Chemiebetriebe in die Deponie seines Dorfes. «Ich hatte keine Ahnung, was in den Fässern war. Meine Aufgabe bestand einfach darin, diese auf den Laster zu laden, zu transportieren und in die Deponie zu bringen.»
Bonfol ist eine Gemeinde mit 700 Einwohnern im äussersten Nordosten der Ajoie (früher auch Elsgau genannt). Die Grenze zu Frankreich ist nur wenige Kilometer entfernt.
Vor dem Bahnhof von Bonfol zeugen die heruntergekommenen Fassaden von zwei Hotels von einer vergangenen Epoche. Denn das Dorf war dank der guten Qualität der örtlichen Tonablagerungen früher für sein Töpferhandwerk, später für Industriekeramik bekannt.
Mit dem Ton beginnt auch die Geschichte der Deponie. Denn nach der Stilllegung einer örtlichen Lehmgrube fragte man sich, was man mit dem grossen Loch machen könnte. Die Antwort war bald gefunden. Denn die Basler chemische Industrie war auf der Suche nach einem Ort, um Abfälle zu entsorgen.
Die alte Grube von Bonfol, nur wenige Kilometer vom Ortskern entfernt, erschien gerade wegen ihres undurchlässigen Bodens dafür geeignet. Die Tatsache, dass sich die Grube auf einer Wasserscheide befindet – der Rhone im Süden und dem Rhein im Norden – schien kein Problem zu sein.
Farbstoffe, Pharmazeutika, Batterien
So wird zwischen 1961 und 1976 diese Grube mit Abfällen von acht chemischen und pharmazeutischen Unternehmungen, darunter Roche und Ciba-Geigy, aufgefüllt. Mitten im Wald werden 114’000 Tonnen Abfälle deponiert. Die Stoffe stammen aus der Produktion von Farbstoffen, Pharmazeutika, Waschmitteln und Agrochemikalien. Aber auch Laborchemikalien oder alte Militärbatterien werden eingelagert, sowie einige Abfälle der Uhrenindustrie aus dem Kanton Bern. Was genau, weiss bis heute niemand.
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Der Kampf der Gemeinden gegen Gift in ihrem Boden
«Es gab nie ein Inventar der eingelagerten Stoffe», sagt José Ribeaud, Autor eines Buches über die Deponie von Bonfol, in einem Interview mit der Zeitung «24 Heures». Greenpeace spricht von einem «schrecklich schädlichen Cocktail» mit Schwermetallen, Pestiziden und organischen Lösungsmitteln.
Die Grube wird mit diesen Abfällen aufgefüllt, bis sie voll ist. Dann kommt eine Schicht Erde darüber, Bäume werden gepflanzt. Die Deponie verschwindet oberflächlich und auch aus dem Bewusstsein der Einwohner, bis eines Tages etwas Aussergewöhnliches passiert.
Wasser wird gelb
Jean-Rodolphe Frisch, Bürgermeister von Pfetterhouse, der französischen Gemeinde gleich hinter der Grenze, erinnert sich in einem Dokumentarfilm: «Mein Schwiegervater bemerkte, dass sich das Wasser in seiner Fischzucht gelb verfärbte. Die Karpfen waren tot. Er zog seine Stiefel an und verfolgte den zufliessenden Bach aufwärts, bis er zur Deponie kam. Dort sah er einen Arbeiter, der Sickerwasser in den Fluss leitete.»
Die Deponie mit ihrem undurchlässigen Boden hatte sich mit Regenwasser gefüllt. Die toxische Flüssigkeit begann überzulaufen. Die chemische Industrie reagierte mit Eindämmungsmassnahmen: Eine Kläranlage wurde gebaut, die Deponie neu ausgekleidet. Problem gelöst? Nicht wirklich.
Im Jahr 1998 intervenieren die Behörden im Fall der Deponie Bonfol. Erstmals wird den grossen Chemieunternehmungen von Basel die Auflage gemacht, die Altlasten der Deponie definitiv zu entsorgen und das Gelände zu sanieren. Zwei Personen waren dabei die Schlüsselfiguren: Pierre Kohler, Umweltminister des Kantons Jura, sowie Philippe Roch, Direktor des Bundesamt für Umwelt.
Pierre Kohler erinnert sich gut an das erste Treffen mit den Chefs der chemischen Industrie von Basel: «Ich habe Ihnen gesagt, dass Bonfol saniert werden muss. Ein Direktor lachte mir ins Gesicht. Er sagte mir, dass sie diese Sanierung nie machen werden.»
David siegt gegen Goliath
Doch das Lachen verflog schnell. Denn die beiden Behördenvertreter hatten das Gesetz auf ihrer Seite, das heisst die «Verordnung über die Sanierung von belasteten Standorten». Diese Altlasten-Verordnung beruht auf dem Prinzip: Wer verschmutzt, muss bezahlen. Es folgte ein Rechtsstreit zwischen Behörden und Industrie. Sogar Greenpeace intervenierte und besetzte die Deponie im Mai 2000 für zwei Monate.
Im Oktober einigte man sich schliesslich auf eine definitive Sanierung der Deponie. «Die kleine Gemeinde im Jura hat die Chemiegiganten in die Knie gezwungen», schrieben damals einige Zeitungen.
Doch es vergehen nochmals 10 Jahre, bis die Arbeiten beginnen. Im Jahr 2010 wird eine mit einer Abluftbehandlung ausgerüstete, mobile Halle über die zu sanierende Deponie gebaut. Es ist eine innovative Anlage, doch die Probleme sind noch längst nicht gelöst.
«Ein Direktor der chemischen Industrie Basel lachte mir ins Gesicht. Er sagte mir, dass sie diese Sanierung nie machen werden.» Pierre Kohler, ehemaliger Umweltminister des Kantons Jura
Fernbediente Bagger
Nur wenige Monate nach Beginn der Arbeiten muss die Sanierung unterbrochen werden. Denn im Inneren des Sarkophags ist es zu einer Explosion gekommen, bei der ein Arbeiter leicht verletzt wird. «Die Kriminalpolizei fand Spuren von Chlor. Das war merkwürdig, weil die Basler Industrie diese Substanz in den 1960er Jahren nicht nutzte», sagt Bernhard Scharvogel, Sprecher der bci Betriebs AGExterner Link, einem Konsortium der Basler Chemiebetriebe zur Umsetzung der definitiven Sanierung der Sondermülldeponie Bonfol.
Um weitere Unfälle zu vermeiden und die Sicherheit zu erhöhen, werden fernbediente Bagger eingesetzt. Diese können einen Aushub bis zu einer Tiefe von 12 Metern vornehmen. Das Aushubmaterial wird in Container verladen und zur Entsorgung in Sonderabfallverbrennungsanlagen nach Deutschland und Belgien gebracht. Dort wird es bei Temperaturen von 1200 Grad vernichtet. Es bleibt schliesslich Schlacke übrig, die in ein Endlager gebracht wird.
«Insgesamt wurden 200’000 Tonnen Altlasten beseitigt. Das entspricht der Länge eines Zuges von Lausanne bis Bern – zirka 100 Kilometer», betont Bernhard Scharvogel. Laut Beobachtern handelt es sich um eine «bis anhin einmalige» und «vorbildliche Sanierung», die komplett von der chemischen Industrie bezahlt wurde. Die Kosten: 380 Millionen Franken.
«Der Aushub ist beendet»
Am 2. September 2016, genau 55 Jahre nach der Einlagerung des ersten Fasses, wird in Bonfol eine historische Mitteilung verbreitet. «Der Aushub ist beendet – es gibt keine chemischen Abfälle mehr in der Sondermülldeponie Bonfol», heisst es in einer Mitteilung der bci.
Für den Gemeindepräsidenten von Bonfol, Fernand Gasser, beginnt damit ein neues Kapitel für den Ort. Endlich könne sich Bonfol vom Image eines «Abfalldorfes» befreien: «Jedes Mal, wenn man von Bonfol sprach, assoziierte man damit Abfälle und Verunreinigung. Das ist jetzt vorbei. Wir wollen nun ein neues Image.»
38’000 Standorte mit Altlasten
Doch es wird noch einige Jahre dauern, bis die einstige Deponie ein ursprüngliches «natürliches» Erscheinungsbild haben wird. Insbesondere muss noch untersucht werden, ob nicht noch tiefer liegendes Erdreich beziehungsweise die Umgebung kontaminiert wurde. Greenpeace will genau hinschauen. Zudem weist Greenpeace darauf hin, dass Bonfol kein Einzelfall ist. «In der Schweiz gibt es noch unzählige Deponien mit toxischen Abfällen», sagt Sprecherin Françoise Debons Minarro.
Tatsächlich gibt es in der Schweiz zirka 38’000 Standorte mit Altlasten. Im Regelfall handelt es sich gemäss Bundesamt für Umwelt um ehemalige Deponien, ehemalige Industrieanlagen oder Schiessplätze. Rund 4000 dieser Standorte stellen ein Risiko für Mensch und Umwelt dar und müssen daher saniert werden.
Roger Bregnard, der eingangs erwähnte Lastwagenfahrer von Bonfol, gibt an, nie wegen der Deponie Gesundheitsprobleme gehabt zu haben. Das gelte auch für seinen Freund, der einst Wächter der Deponie war und stets seine Cervelat dort gegessen habe: «Er ist mit 90 Jahren verstorben. Wer weiss: Vielleicht waren diese Abfälle gar nicht gefährlich. Oder wir haben einfach eine dicke Haut.»
Ein Mahnmal
Zur Unterstützung der Gemeinde Bonfol wurde der Verein Escale BonfolExterner Link gegründet. Ziel ist es, zu einer besseren Lebensqualität in der Gemeinde beizutragen und das Dorf für den Tourismus durch künstlerische und soziale Projekte attraktiver zu machen. Die Basler Chemiefirmen haben dafür 3 Millionen Franken bereitgestellt.
Auf dem Standort der ehemaligen Deponie soll ein Werk des bekannten Tessiner Architekten Mario Botta als «Ort der Erinnerung» entstehen. «Wir können nicht 50 Jahre Geschichte einfach auslöschen. Die Menschen haben hier Übles angerichtet, waren aber auch in der Lage, den Schaden zu beheben», sagt der Projektverantwortliche Yannis Cuenot.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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